Entfaltung statt Eskalation – Das Harvard-Konzept als systemischer Rahmen für Mediation und Verhandlung
Mediator Sweti

Warum ein Rahmenartikel?
Verhandlungen verlaufen selten geradlinig. Sie sind geprägt von Interessen, Emotionen, organisationalen Logiken und systemischen Wechselwirkungen. In dieser Komplexität liefert das Harvard-Konzept seit über 40 Jahren eine strukturierende Orientierung. Die sechs Prinzipien, auf denen es beruht, wurden in dieser Artikelserie einzeln dargestellt – jeweils mit systemischer Perspektive und mediationspraktischem Bezug.
Dieser abschließende Beitrag bietet eine systematische Einbettung: Er fasst die Harvard-Prinzipien zusammen, verknüpft sie mit dem mediationsbezogenen Phasenmodell und stellt Bezüge zu relevanten Verhandlungsformen, Interventionsmethoden und theoretischen Grundhaltungen her. Ziel ist nicht nur eine Orientierung im Modell, sondern die Anregung zu reflektierter Haltung und eigenständiger Anwendung in der Beratungspraxis.
Ursprung und Wirkungsgeschichte des Harvard-Konzepts
Das Harvard-Konzept wurde Anfang der 1980er Jahre am Harvard Negotiation Project von Roger Fisher, William Ury und Bruce Patton entwickelt. Es basiert auf der Frage, wie Menschen in komplexen, auch eskalierten Situationen interessenorientiert und fair verhandeln können – ohne auf bloße Kompromisse oder Machtausgleich zurückzufallen.
International bekannt wurde es durch das Buch „Getting to Yes“, das in über 30 Sprachen übersetzt wurde. In den folgenden Jahrzehnten fand das Modell Eingang in Unternehmensverhandlungen, internationale Diplomatie, Konfliktbearbeitung, Bildung und später auch in die Mediation.
Im deutschsprachigen Raum wurde es zunächst im juristischen Kontext als Gegenentwurf zur konfrontativen Verhandlungslogik etabliert. Ab den 1990er Jahren setzten sich mediative, psychologische und systemische Lesarten durch – insbesondere in der interdisziplinären Mediationspraxis.
Ist das Harvard-Konzept ein Prozess? – Ein kritischer Blick
Das Harvard-Konzept wurde ursprünglich nicht als Prozessmodell entwickelt, sondern als Prinzipienrahmen für konstruktives Verhandeln. Dennoch liegt in der praktischen Anwendung eine klare Prozessstruktur nahe: Die Abfolge von Sachklärung, Interessenidentifikation, Optionensammlung und Entscheidung bildet implizit eine dynamische Phasenlogik.
In der systemischen Praxis lässt sich das Harvard-Modell mit mediationsnahen Prozessformen verbinden – etwa der klassischen 4-Phasen-Mediation.
Zudem bietet das Modell eine gute Anschlussfähigkeit an das Verständnis von Verhandlung auf mehreren Ebenen:
Substanz- und Prozessebene: Verhandlungen verlaufen nicht nur inhaltlich, sondern auch strukturell. Die Substanzebene umfasst den Sachverhalt – Zahlen, Zuständigkeiten, Entscheidungen. Die Prozessebene betrifft das “Wie” der Auseinandersetzung – wer wird beteiligt, wie wird entschieden, wie transparent ist das Verfahren? Das Harvard-Konzept stärkt beide Ebenen, indem es sowohl Orientierung für Inhalte als auch eine klare Gesprächsstruktur bereitstellt.
Positionsbezogenes vs. sachbezogenes Verhandeln: Positionsbezogenes Verhandeln ist häufig konfrontativ – es zielt auf Durchsetzung und Festhalten an Forderungen. Sachbezogenes Verhandeln – im Sinne des Harvard-Konzepts – setzt dagegen auf Interessenklärung, Kreativität und gemeinsame Problemlösung. Die Prinzipien des Harvard-Konzepts unterstützen diesen Zugang gezielt.
Kooperatives vs. kompetitives Verhandeln: In vielen Organisationen treffen diese beiden Haltungen aufeinander. Kooperatives Verhandeln strebt Lösungen an, die für beide Seiten tragfähig sind. Kompetitives Verhandeln hingegen betont Vorteil und Kontrolle. Das Harvard-Konzept bietet hier einen Kompass: Es fördert kooperative Haltungen, ohne naive Harmonie zu erwarten. Die Artikel Verhandeln – der mediative Blick und Kooperative und kompetitive Verhandlungsformen zeigen, wie diese Dynamiken verstanden und professionell gesteuert werden können.
In Summe lässt sich sagen: Das Harvard-Konzept entfaltet seine Stärke nicht nur durch seine sechs Prinzipien, sondern durch deren Integration in eine prozesshafte, dialogische Struktur. Es stellt damit nicht nur einen Werterahmen bereit, sondern eine Phasenlogik, also eine innere Struktur, die den typischen Verlauf einer Verhandlung systematisch gliedert: von der Klärung des Problems, über das Erkennen von Interessen, die Entwicklung von Optionen bis zur Entscheidung. Diese Abfolge unterstützt Orientierung, hilft Ebenen zu trennen und fördert den konstruktiven Prozess.
Diese Phasenlogik wiederum wird gestützt von einer Entscheidungsstrategie, die nicht auf Druck oder Anpassung, sondern auf Vergleich, Bewertung und Fairness basiert. Die Prinzipien, die Phasenstruktur und die Entscheidungsstrategie bilden zusammen eine Art kognitives und praktisches Gerüst – einen Verhandlungsraum, der Orientierung, Transparenz und Handlungsfähigkeit ermöglicht.
Gerade im Kontext von Organisationsmediation und systemischer Beratung wird damit deutlich: Das Harvard-Konzept ist kein starres Modell, sondern eine anpassbare Architektur für kooperative Entscheidungen.
Die sechs Prinzipien im Überblick
- Menschen und Probleme trennen – Trennung emotionaler und sachlicher Ebene zur Deeskalation und Verständigung.
- Fokus auf Interessen statt Positionen – Bedürfnisse sichtbar machen, statt an Forderungen festzuhalten.
- Entscheidungsoptionen entwickeln – Vielfalt statt frühzeitiger Einigung, Nutzung kreativer Prozesse.
- Objektive Kriterien verwenden – Orientierung schaffen bei Unsicherheit, Asymmetrie und Entscheidungskonflikten.
- BATNA entwickeln und vergleichen – Handlungsfähigkeit und Entscheidungsklarheit stärken.
- Reflexion über ZOPA, WATNA, ZAPTA – Vertiefen das Verständnis für Verhandlungsräume und systemische Wirkungsketten.

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Anwendung des Harvard-Konzepts in der 4-Phasen-Mediation
Die mediative Praxis arbeitet häufig mit einer viergliedrigen Prozessstruktur, die auch im Kontext des Harvard-Konzepts fruchtbar gemacht werden kann:
- Phase 1 (Themensammlung/Klärung): Hier hilft das Prinzip „Menschen und Probleme trennen“, um überhaupt gemeinsam in den Dialog zu kommen.
- Phase 2 (Interessen klären): Das Prinzip „Fokus auf Interessen statt Positionen“ entfaltet hier seine größte Wirksamkeit. Systemisches Fragen unterstützt die Herausarbeitung von Bedürfnissen.
- Phase 3 (Optionen entwickeln): Die Entwicklung mehrerer Entscheidungsoptionen eröffnet Spielräume und unterstützt die gemeinsame Lösungsfindung.
- Phase 4 (Vereinbarung): Hier greifen „Objektive Kriterien“ sowie die Reflexion über BATNA/WATNA als strukturierende Elemente.
Systemische Interventionen entlang der Prinzipien
Systemische Interventionen machen die Prinzipien nicht nur anwendbar, sondern verbinden Struktur mit systemischer Haltung – sie machen sie erfahrbar und anschlussfähig. Typische Ansätze:
- Spiegeln – um implizite Botschaften hörbar zu machen
- Zirkuläres Fragen – um systemische Zusammenhänge zu beleuchten
- Externalisieren – um belastete Themen zu objektivieren. Dabei wird das Thema sprachlich aus der Person oder Beziehung herausgelöst und in eine beobachtbare Außenposition gebracht.
- Visualisieren – etwa von ZOPA-Räumen (also möglichen Übereinkunftsbereichen) oder BATNA-Szenarien (konkret durchdachten Handlungsalternativen bei Scheitern einer Einigung)
- Entscheidungsarchitekturen – bewusste Gestaltung der Rahmenbedingungen für Entscheidungsprozesse (z. B. Bewertungsreihenfolge, Kriterienwahl, Etappenabstimmung)
Die Verbindung zur systemischen Mediation
Der Begriff systemische Mediation bezeichnet eine Mediationsform, bei der die Dynamiken zwischen den Beteiligten als Teil eines größeren sozialen Systems betrachtet werden. Es geht um Kontextsensibilität, Anschlussfähigkeit und die Förderung von Handlungsspielräumen durch Perspektivwechsel.
Das Harvard-Konzept bietet dafür den strukturellen Rahmen – Systemik liefert Haltung, Beobachtungsinstrumente und Interventionsmethoden. Beide ergänzen sich auf ideale Weise und machen auch in komplexen Organisationen nachhaltige Verständigung möglich.
Ausblick und Einladung zur Anwendung
Die sechs Prinzipien des Harvard-Konzepts bieten mehr als ein Verhandlungsrezept. Richtig eingesetzt, schaffen sie Klarheit, ermöglichen Augenhöhe und erweitern die Verantwortung der Beteiligten.
Für Mediator:innen, Coaches und Organisationsberater:innen bedeutet dies: Die Reflexion über Haltung, Verfahrensgestaltung und Entscheidungsarchitekturen ist ebenso wichtig wie die Kenntnis der Modelle.
Fragen wie „Welche Prinzipien vernachlässige ich in meiner Praxis?“ oder „Wie kann ich Entscheidungsoptionen und Alternativen in Organisationen strukturieren, ohne Druck aufzubauen?“ sind ein Ausgangspunkt für Weiterentwicklung – sowohl methodisch als auch in der inneren Haltung.
Wenn Sie dazu Austausch oder eine begleitete Fallreflexion wünschen, stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.
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Kontakt:
Dr. Swetoslaw Beltschew – Konfliktbegleitung
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