Objektive Kriterien in der Mediation – Fair verhandeln mit System
Von Mediator Sweti

Objektive Kriterien in der Mediation
Einleitung
Dieser vierte Artikel der Serie zum Harvard-Konzept in der Organisationsmediation behandelt das Prinzip: „Objektive Kriterien verwenden“. Während viele Verhandlungen von subjektiven Bewertungen und Machtpositionen geprägt sind, plädiert dieses Prinzip für ein gemeinsames Fundament: faire, überprüfbare und nachvollziehbare Maßstäbe.
Besonders im organisationalen Kontext, in dem Rollen, Interessen und Machtasymmetrien eine große Rolle spielen, schaffen objektive Kriterien eine wichtige Grundlage für vertrauensvolle Einigung.
Problemdefinition: Wenn Macht und Meinung dominieren
Zwei frühere Blogartikel bilden den theoretischen Hintergrund für diesen Abschnitt:
- Der Verhandlungsgedanke in der Mediation behandelt die Unterscheidung zwischen sachbezogenem und positionsbezogenem Verhandeln sowie die Rolle der Verhandlungsphasen.
- Kooperative und kompetitive Verhandlungstechniken in der Mediation beschreibt, wie Mediator:innen mit unterschiedlichen Verhandlungsstilen umgehen und zeigt, wie wichtig objektive Kriterien in kompetitiven Settings sind.
Beide Texte verdeutlichen, warum in konflikthaften oder asymmetrischen Verhandlungssituationen ein Rückgriff auf gemeinsam akzeptierte Maßstäbe essenziell ist, um faire und tragfähige Lösungen zu ermöglichen. In vielen Organisationen sind Entscheidungen das Ergebnis von Status, Einfluss oder rhetorischer Überlegenheit. Doch was passiert, wenn eine Partei das Ergebnis nicht nachvollziehen kann oder sich übergangen fühlt?
Subjektive Entscheidungen führen häufig zu:
- Misstrauen gegenüber der Lösung: Wenn ein Beteiligter das Ergebnis als einseitig oder unfair wahrnimmt, fehlt das Vertrauen in die Tragfähigkeit der Vereinbarung. Beispiel: Eine Führungskraft fühlt sich bei der Zielvereinbarung übergangen und hält sich später nicht daran.
- Fehlender Verbindlichkeit: Ohne objektive Maßstäbe bleibt die Entscheidung oft interpretationsfähig – was ihre Umsetzung schwächt. Beispiel: Ein Team einigt sich auf eine “faire Verteilung der Aufgaben”, ohne zu definieren, was fair bedeutet.
- Spätere Infragestellung oder stille Verweigerung: Vereinbarungen, die auf subjektiven Einschätzungen beruhen, werden im Nachhinein leichter relativiert oder ignoriert. Beispiel: Eine Partei lehnt Monate später die getroffene Lösung ab, weil sie sich an “ihr Verständnis der Absprache” erinnert.
Besonders bei bereits angespannten Beziehungen reicht ein bloßer Kompromiss nicht – es braucht ein nachvollziehbares Maß an Fairness.
Theorie: Objektivität als systemische Verhandlungshilfe
Systemische Grundlagen
- Konstruktivismus: Jeder konstruiert seine eigene Realität – objektive Kriterien schaffen eine temporäre gemeinsame Realität. Dabei entsteht ein scheinbarer Widerspruch: Wie können objektive Maßstäbe in einem konstruktivistischen Rahmen überhaupt gelten? Denn wenn alle Wahrnehmung subjektiv ist, scheint Objektivität unmöglich.
Dieser Widerspruch lässt sich auflösen, wenn man Objektivität nicht als absolute Wahrheit versteht, sondern als verhandelte Bezugspunkte, auf die sich Beteiligte für die Dauer einer Entscheidungsfindung einigen. In der Systemtheorie wird dies als strukturierende Kopplung verstanden: Objektive Kriterien sind damit keine absoluten Wahrheiten, sondern von den Beteiligten ausgehandelte Orientierungsgrößen, die dabei helfen, Entscheidungen nachvollziehbar zu treffen und Unsicherheit in Verhandlungsprozessen zu reduzieren.
- Zirkuläres Denken: In konflikthaften Kommunikationsmustern neigen die Beteiligten dazu, Ursache und Wirkung linear zu interpretieren („Ich reagiere nur auf den anderen“). Objektive Kriterien wirken hier wie ein externer Referenzpunkt, der es ermöglicht, aus diesen Eskalationsspiralen auszusteigen. Durch ihre Einführung wird der Gesprächsfluss zirkulär erweitert: Nicht mehr nur die Logik der Gegenseite zählt, sondern auch ein dritter Bezugspunkt – ein Maßstab außerhalb des persönlichen Erlebens. Dies öffnet die Möglichkeit, eigene Anteile zu reflektieren, gemeinsame Muster zu erkennen und neue Kontexte für Verständigung zu schaffen.
- Selbstorganisation: In der Systemtheorie werden soziale Systeme als sich selbst organisierende Einheiten verstanden, die auf Sinn- und Entscheidungsstrukturen angewiesen sind. Objektive Kriterien wirken in diesem Zusammenhang als strukturgebende Impulse von außen, die das System nicht steuern, aber anregen. Sie schaffen eine temporäre Orientierung, die hilft, Entscheidungskomplexität zu reduzieren, ohne die Autonomie der Beteiligten aufzuheben. In der Mediation können solche Kriterien als stabilisierende Struktur wahrgenommen werden, die es erlaubt, innerhalb der Selbstorganisation des Systems zu konsensfähigen Lösungen zu gelangen.
Kommunikationspsychologie nach Schulz von Thun
- Subjektive Argumente erscheinen auf der Beziehungs- oder Selbstoffenbarungsebene.
- Objektive Maßstäbe verschieben das Gespräch zurück auf die Sachebene.
- So wird eine Diskussion versachlicht, ohne dass Bedürfnisse übergangen werden.
Konfliktforschung nach Glasl
- In Eskalationsstufe 4 („Koalitionen“) oder 5 („Gesichtsverlust“) helfen objektive Kriterien, persönliche Angriffe zu vermeiden.
- Sie ermöglichen eine Re-Legitimierung der Gesprächsbasis.
Anwendung in der Organisationsmediation
Wo kommen objektive Kriterien her?
- Rechtliche Normen (Tarifverträge, Datenschutzvorgaben): z. B. bei der Klärung von Arbeitszeiten anhand gesetzlicher Vorgaben.
- Branchenstandards (DIN-Normen, Projektleitlinien): z. B. bei der Bewertung von Qualitätssicherungsprozessen nach ISO-Richtlinien.
- Wirtschaftliche Referenzwerte (Marktpreise, Benchmarks): z. B. bei der Diskussion über Dienstleistungspreise anhand von branchenüblichen Stundensätzen.
- Interne Dokumente (Leitbilder, Verfahrensanweisungen): z. B. bei der Frage nach Zuständigkeiten mit Bezug auf bestehende Organisationshandbücher.
- Expertise von Dritten (Gutachten, Erfahrungswerte): z. B. bei der Klärung technischer Fragen durch Einschaltung eines unabhängigen Sachverständigen.
Rolle der Mediator:innen
- Identifikation möglicher Kriterienquellen
- Moderation der Auswahl: Was wird von beiden Seiten akzeptiert?
- Zeitpunkt steuern: Objektive Kriterien werden vor der Bewertung vereinbart
Typische Leitfragen zur Anwendung
- „Woran machen Sie fest, ob das eine faire Lösung ist?“
- „Gibt es Regelwerke, die Sie beide anerkennen würden?“
- „Was würde jemand mit viel Erfahrung in dieser Situation vorschlagen?“
- „Was hat sich in vergleichbaren Fällen bewährt?“
Beispiel aus der Praxis
Fall: Zwei Abteilungen streiten über die Verteilung gemeinsamer Arbeitszeitanteile.
Subjektive Lösung: Jede Seite nennt ihre Einschätzung (50 % vs. 80 %).
Vorgehen mit objektiven Kriterien:
- Rückgriff auf Projektverträge, Zeiterfassungssysteme, Zielvereinbarungen
- Einigung auf eine Berechnungsformel, die für beide nachvollziehbar ist
Ergebnis: Akzeptierte Entscheidung und Grundlage für zukünftige Konfliktvermeidung.
Fazit
Objektive Kriterien wirken wie ein Kompass im Nebel emotionaler und machtgeprägter Verhandlungen. Sie machen Vereinbarungen nachvollziehbar, stärken die Akzeptanz und bieten Orientierung jenseits persönlicher Meinungen.
In der Organisationsmediation sind sie ein zentrales Werkzeug für Mediator:innen, um Dialogräume zu strukturieren, die Fairness zu erhöhen und den Beteiligten Orientierung zu geben.
Ausblick: Im nächsten Artikel der Reihe widmen wir uns der Entwicklung und dem Vergleich von Alternativen – insbesondere der BATNA (Best Alternative to a Negotiated Agreement) – und zeigen, wie sie in der Mediation systemisch reflektiert werden können.
Wenn Sie in Ihrer Organisation mit komplexen Entscheidungsprozessen oder festgefahrenen Auseinandersetzungen zu tun haben – ich begleite Sie mit systemischer Mediation auf Augenhöhe.
Kontakt:
Dr. Swetoslaw Beltschew – Konfliktbegleitung
E-Mail: mediator@sweti.de
Webseite: mediator.sweti.de
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