Fokus auf Interessen statt Positionen – Ein systemischer Zugang zur Verhandlungsführung
Von Mediator Sweti
Einleitung
Dieser Artikel ist der zweite Teil unserer Serie zum Harvard-Konzept in der Organisationsmediation. Im Zentrum steht diesmal das Prinzip: „Fokus auf Interessen statt Positionen“. Während Positionen oft starr wirken und Konflikte festfahren, öffnen Interessen den Raum für Verständnis, Dialog und echte Lösungen.
Wir beleuchten diese Technik aus systemischer Perspektive, eingebettet in psychologische und kommunikationswissenschaftliche Konzepte. Ziel ist es, Fachpersonen im Bereich Mediation, Coaching und Beratung eine theoretisch fundierte und praktisch anwendbare Reflexionsgrundlage zu bieten.
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Der Grundgedanke: Interessen sichtbar machen
Anstatt auf festgelegten Forderungen zu beharren, legt das Harvard-Konzept nahe, die dahinterliegenden Interessen und Bedürfnisse zu ermitteln. Interessen sind flexibler, vielseitiger und geben Einblick in das Warum einer Position. Die Trennung zwischen Position und Interesse öffnet Räume für neue, kreative Lösungen, die den Beteiligten gerecht werden können.
Metapher: Die Position ist die Landkarte – aber die Interessen sind das Terrain. Wer nur mit der Landkarte verhandelt, übersieht Höhen, Tiefen und Umwege. Erst wer das Terrain – also die Interessen – kennt, kann sich flexibel, orientiert und nachhaltig bewegen.
Systemische Sicht auf Positionen und Interessen
In systemischen Kontexten betrachten wir Positionen und Interessen nicht als Eigenschaften von Personen, sondern als Elemente eines Beziehungssystems.
Was ist eine Position?
- Eine Position ist eine konkrete Forderung oder ein fixierter Lösungsvorschlag, z. B. „Ich will dieses Büro“, „Ich verlange eine Gehaltserhöhung“.
- Positionen sind oft eng verknüpft mit Status, Rollenbildern, persönlichen Narrativen oder organisationaler Zugehörigkeit.
- In konflikthaften Systemen sind Positionen häufig Stellvertreter für tieferliegende emotionale Anliegen (z. B. Zugehörigkeit, Anerkennung, Kontrolle).
Was ist ein Interesse?
- Interessen sind die Beweggründe, die Bedürfnisse, Werte oder Ziele, die hinter einer Position stehen.
- Sie sind dynamischer und mehrperspektivisch – und lassen sich in der Regel besser miteinander in Beziehung setzen als Positionen.
- Interessen spiegeln systemische Kontexte: Machtverhältnisse, unausgesprochene Loyalitäten, verdeckte Rollenerwartungen.
Beispiel: Zwei Abteilungen streiten über ein Projektbudget (Position). Bei näherem Hinsehen wird deutlich: Die eine Seite sorgt sich um Ressourcensicherung (Interesse), die andere um Sichtbarkeit und Einfluss im Unternehmen (ebenfalls Interesse).
Systemische Grundlagen dieser Technik
Das systemische Denken unterstützt das Prinzip „Interessen statt Positionen“ auf mehreren Ebenen:
- Konstruktivismus: Positionen entstehen aus subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen. Was als „gerecht“, „zumutbar“ oder „zwingend“ erscheint, ist immer auch eine Folge individueller Deutungen.
- Mehrperspektivität: Interessen lassen sich vielfältiger erzählen und sind anschlussfähiger für andere Positionen im System.
- Zirkularität: Positionen wirken eskalierend, weil sie Gegenpositionen erzeugen. Interessen eröffnen stattdessen Suchbewegungen.
- Selbstorganisation: Systeme verändern sich durch Störungen. Das Sichtbarmachen von Interessen ist eine konstruktive Störung, die neue Lösungsräume erschließt.
Warum Positionen und Interessen unterscheiden?
Eskalationsvermeidung
Positionen führen oft zu Konfrontationen: „Entweder wir machen es so – oder gar nicht.“ Interessen hingegen laden ein zum Dialog: „Was ist dir wichtig?“ Diese Verschiebung von Konfrontation zu Ko-Konstruktion senkt die Eskalationsdynamik.
Ressourcennutzung
Interessen können gemeinsame Werte und Ziele sichtbar machen – also Ressourcen, die in Positionen verborgen bleiben. Dies stärkt die Kooperationsbereitschaft.
Systemischer Mehrwert
In Organisationen mit hoher Komplexität und vielen Wechselwirkungen wirken Interessen wie Übersetzer: Sie helfen, verschiedene Logiken (Führung, Team, Strategie, Kultur) miteinander ins Gespräch zu bringen.
Weitere theoretische Grundlagen
Schulz von Thun – Kommunikationspsychologie
- Positionen drücken sich meist auf der Sachebene aus.
- Interessen liegen häufig auf der Selbstoffenbarungs- oder Beziehungsebene.
- Die Unterscheidung hilft, Gespräche zu entflechten und tieferes Verständnis zu ermöglichen.
Transaktionsanalyse
- In der TA sind Positionen häufig mit dem kritischen Eltern-Ich verbunden: festgelegt, fordernd, bewertend.
- Interessen dagegen entspringen häufig dem Erwachsenen-Ich: sie sind reflektiert, situationsbezogen und dialogfähig.
Konfliktmodell nach Glasl
- In frühen Eskalationsstufen kann über Interessen noch verhandelt werden (Stufe 1–3).
- In späteren Eskalationsphasen werden Positionen starrer und destruktiver.
- Der Fokus auf Interessen ist eine präventive Maßnahme gegen Eskalation.
Psychologische Grundlagen
- Interessen aktivieren emotionale Ressourcen (z. B. Hoffnung, Sinn, Zugehörigkeit).
- Positionen hingegen aktivieren häufig Abwehrmechanismen (z. B. Kampf, Rückzug, Starre).
Verbindungen zu bestehenden Artikeln
Der Verhandlungsgedanke in der Mediation
Dieser Artikel analysiert Verhandlungen in der Mediation auf einer allgemeinen Ebene – unabhängig vom Harvard-Konzept. Er unterscheidet zwischen positionsbezogenem und sachbezogenem Verhandeln, betont die Bedeutung von Substanz- und Prozessebene sowie den Einfluss des 3. Axioms von Watzlawick auf festgefahrene Positionen. Der Fokus liegt auf den kommunikativen Dynamiken innerhalb des Verhandelns, nicht auf einem bestimmten methodischen Modell.
Verbindung zum Prinzip „Interessen statt Positionen“: Die Unterscheidung von Substanz- und Prozessebene spiegelt das systemische Anliegen wider, zwischen Verhalten und dahinterliegenden Bedeutungen zu differenzieren. Das sachbezogene Verhandeln legt implizit bereits einen Schwerpunkt auf Interessen statt auf starre Forderungen – jedoch ohne die begriffliche Schärfe und Systematik des Harvard-Modells.
Kooperative und kompetitive Verhandlungstechniken in der Mediation: Ein Vergleich
Der zweite Artikel erweitert die Perspektive durch eine Gegenüberstellung von kooperativen und kompetitiven Verhandlungsansätzen. Das Harvard-Konzept wird hier als ein Beispiel für kooperatives Verhandeln eingeführt, steht aber nicht im Mittelpunkt. Stattdessen liegt der Fokus auf der methodischen Steuerung durch Mediatoren und der häufigen Neigung von Medianten zu kompetitivem Verhalten.
Verbindung zum Prinzip „Interessen statt Positionen“: Der Artikel macht deutlich, dass das Prinzip eng mit kooperativem Verhandeln verbunden ist. Besonders die Rollenverteilung – Mediator als Förderer kooperativer Techniken vs. Medianten als Positionstreue – zeigt, wie zentral das Prinzip „Interessen statt Positionen“ für eine tragfähige Konfliktlösung ist. Das Prinzip dient dabei als Korrektiv zu kompetitiven Mustern.
Beide Artikel schaffen ein systemisches Vorverständnis von Verhandlungsdynamiken und bieten damit die notwendige Grundlage, um das zweite Harvard-Prinzip nicht nur als Technik, sondern als Haltung zu verstehen.
Interventionen in der Praxis
Interessen erfragen – aber richtig
- Statt: „Was wollen Sie?“ → „Worum geht es Ihnen dabei?“
- Statt: „Was fordern Sie?“ → „Was macht diese Lösung für Sie so wichtig?“
- Auch hilfreich: „Was würde passieren, wenn Sie Ihre Position durchsetzen – und was, wenn nicht?“
Hypothetisieren und spiegeln
- „Wenn ich Sie richtig verstehe, ist Ihnen Sicherheit bei Entscheidungen besonders wichtig?“
- „Das klingt für mich nach einem Wunsch nach Verlässlichkeit – liege ich da richtig?“
Reframing von Positionen
- „Sie wollen unbedingt dieses Büro behalten – könnte das auch damit zu tun haben, dass Sie einen Rückzugsort brauchen?“
- „Wenn Sie sagen: ‚Ich verlange die Leitung‘ – steckt da vielleicht der Wunsch nach Gestaltungsspielraum?“
Visualisierung von Interessenclustern
- Interessen auf Karten schreiben, gruppieren, Gemeinsamkeiten markieren
- Gemeinsam prüfen: Welche Interessen sind kompatibel? Welche ergänzen sich?
Fazit
Das Prinzip „Fokus auf Interessen statt Positionen“ ist mehr als eine Technik – es ist eine Haltung. Es bedeutet, unter die Oberfläche zu schauen, zuzuhören, Verstehen zu ermöglichen und Zusammenarbeit zu gestalten. In Organisationen mit hoher Komplexität und Dynamik ist diese Haltung überlebenswichtig.
Für systemisch arbeitende Mediator:innen und Berater:innen bietet dieses Prinzip einen zentralen Zugang zu nachhaltiger Konfliktlösung, stabiler Beziehungsgestaltung und kreativer Veränderungsarbeit.
Weiterführend: Im nächsten Artikel der Serie behandeln wir das dritte Prinzip des Harvard-Konzepts: „Lösungsoptionen zum beiderseitigen Vorteil entwickeln“ – mit systemischen Werkzeugen und praktischen Beispielen aus der Moderation.
Kontakt:
Dr. Swetoslaw Beltschew – Konfliktbegleitung
E-Mail: mediator@sweti.de
Webseite: mediator.sweti.de
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