Auftragsklärung systemisch gestalten: Was professionelle Berater:innen, Coaches und Mediator:innen wissen sollten
Mediator Sweti

1. Einleitung
Auftragsklärung gehört zu den zentralen, oft unterschätzten Momenten professioneller Beratungs-, Coaching- und Mediationsprozesse. Sie legt die Grundlage dafür, ob ein gemeinsamer Arbeitsprozess tragfähig wird — oder ob er in implizite Erwartungen, verdeckte Allianzen oder unklare Rollenmuster gerät.
Gerade in komplexen Organisationen zeigt die Praxis: Ein einmal formulierter Auftrag ist selten stabil oder eindeutig. Vielmehr unterliegt er systemischen Dynamiken: Er wird im Lauf des Prozesses interpretiert, umdefiniert, ausgehandelt — von allen beteiligten Akteur:innen. In diesem Sinne ist Auftragsklärung kein einmaliger Akt, sondern ein fortlaufender Reflexionsprozess, der immer wieder aktualisiert und bewusst gestaltet werden muss.
In dieser Perspektive reicht es nicht aus, im Vorgespräch einen formalen Vertrag zu schließen. Vielmehr braucht es eine systemische Sensibilität für das, was mit dem Auftrag „mitschwingt“:
- Welche ungesagten Erwartungen gibt es im System?
- Wer definiert informell, was als „Erfolg“ gilt?
- In welchem Verhältnis stehen die formalen Auftragsziele zu den Interessen und Bedürfnissen der Beteiligten?
- Wie verändert sich der Auftrag im Wechselspiel zwischen Organisation, Berater:in und Klient:innen?
Gerade bei Organisationsmediationen, organisationalem Coaching und Organisationsberatung — also in allen Settings, in denen Dreierverträge eine Rolle spielen — ist diese systemische Dimension der Auftragsklärung unverzichtbar. Aber auch im klassischen Coaching und in Zweier-Mediationssettings wirkt sie: Kein Prozess ist frei von Kontext.
Systemische Modelle zur Unterstützung der Auftragsklärung
Um diese Komplexität professionell zu handhaben, braucht es Reflexionsmodelle, die mehr bieten als eine formale Vertragscheckliste. In diesem Artikel stelle ich dafür folgende Modelle und Perspektiven integriert vor:
- Das 4-Felder-Modell — als zentraler Kompass für die Klärung von Anliegen, Auftrag, Systemumfeld und Rolle.
- Das 9-Felder-Modell (Prof. Joseph Rieforth) — als vertiefende Analyse- und Kontextmatrix, um Ressourcen, Interessen und Problemdimensionen systematisch im Zeitverlauf zu erfassen.
- Die Kohärenzfaktoren (nach Rieforth) — als qualitative Vertiefung: Sie ermöglichen es, die in den Feldern erfassten Inhalte auf der Ebene von Sinn, Kognition, Emotion, Wahrnehmung, Körper und Verhalten zu reflektieren und damit tiefere Wirkmechanismen sichtbar zu machen.
- Der Dreiervertrag (nach Fanita English) — als zentrales Instrument der Rollenklärung und Systemtransparenz in Mehrpersonensystemen. Er hilft, die häufig unterschätzte Rolle von Auftraggeber:innen im System prozessbewusst zu gestalten.
Diese Modelle ergänzen sich in der Praxis hervorragend. Sie unterstützen Mediator:innen, Berater:innen und Coaches dabei, die eigene Rolle als stiller Begleiter und systemischer Prozessbegleiter bewusst zu gestalten — und damit Klarheit, Verbindlichkeit und professionelle Integrität im Prozess zu sichern.
Auftragsklärung als systemischer Prozess
Die Grundhaltung, die diesem Verständnis von Auftragsklärung zugrunde liegt, ist systemisch orientiert:
- Aufträge entstehen im Kontext organisationaler, institutioneller oder persönlicher Systeme.
- Diese Systeme sind nicht neutral: Sie transportieren Werte, Machtlogiken, Interessen und implizite Regeln.
- Auch Berater:innen, Mediator:innen und Coaches sind Teil dieses Systems und wirken mit ihrem eigenen Anliegen und Rollenverständnis auf den Prozess ein.
Daher ist es hilfreich, die eigene Praxis der Auftragsklärung nicht nur als inhaltliche Klärung (Was soll getan werden?), sondern immer auch als prozessuale und relationale Klärung (Wer erwartet was von wem — in welchem Kontext?) zu gestalten.
Das 4-Felder-Modell bietet dafür eine ausgezeichnete Grundstruktur. Es hilft, sowohl die eigene Haltung als auch die Komplexität der systemischen Bezüge im Blick zu behalten. In den folgenden Abschnitten zeige ich, wie es sich in der Praxis nutzen und mit den genannten ergänzenden Modellen wirkungsvoll verbinden lässt.
Denn gelingende Auftragsklärung schafft nicht nur Klarheit im Prozess — sie ermöglicht Vertrauen, schützt Rollenintegrität und erhöht die Wirksamkeit jeder professionellen Begleitung.
2. Grundprinzipien systemischer Auftragsklärung
Wer sich professionell mit systemischer Auftragsklärung beschäftigt, erkennt schnell: Der Auftrag selbst ist immer Teil eines größeren sozialen Systems. Er entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern ist geprägt durch die Dynamiken, Logiken und Kommunikationsmuster des jeweiligen Kontextes.
Damit unterscheidet sich systemische Auftragsklärung grundlegend von einem rein vertraglichen oder administrativ verstandenen Vorgehen. Während klassische Auftragsklärung häufig versucht, eine fixierte, möglichst stabile Vereinbarung zwischen Berater:in und Auftraggeber:in herzustellen, geht systemische Auftragsklärung davon aus, dass Aufträge in Bewegung sind. Sie spiegeln Interessen und Beziehungen wider — und verändern sich im Lauf der Zusammenarbeit.
Diese Sichtweise bringt spezifische Grundprinzipien mit sich, die das Vorgehen und die Haltung von systemisch arbeitenden Mediator:innen, Berater:innen und Coaches prägen. Im Folgenden beleuchte ich die wichtigsten davon.
Mehrdeutigkeit und Ambivalenz von Aufträgen
In vielen Beratungskontexten zeigt sich: Kein Auftrag ist eindeutig. Selbst wenn er im Gespräch oder im Vertrag sauber formuliert erscheint, transportiert er meist mehrdeutige Botschaften:
- Offizielle Ziele und verdeckte Interessen fallen auseinander.
- Unterschiedliche Systemmitglieder verstehen unter „Erfolg“ verschiedene Dinge.
- Manche Erwartungen bleiben implizit, weil sie nicht besprechbar sind oder weil sie von Seiten der Organisation als selbstverständlich angesehen werden.
Gerade in Organisationsmediationen und in OE-naher Beratung sind diese Phänomene besonders ausgeprägt. Hier wirken oft parallele Handlungslogiken:
- Die Organisation möchte eine formale Lösung (z. B. „Konflikt ist beigelegt“).
- Einzelne Führungskräfte erwarten implizit, dass ihre Deutungsmuster bestätigt werden.
- Mitarbeitende suchen Schutz und Orientierung.
- Der Berater oder die Mediatorin wird als neutrale Instanz erwartet — soll aber dennoch die „richtigen“ Dynamiken stärken oder schwächen.
Diese Ambivalenz ist systemisch gesehen nicht vermeidbar. Sie ist Ausdruck der Vielfalt von Interessen und Perspektiven in sozialen Systemen. Aufgabe der systemischen Auftragsklärung ist es, diese Mehrdeutigkeit wahrzunehmen, offen zu benennen und bewusst zu halten — nicht, sie vorschnell „aufzulösen“.
Systemische Zirkularität: Auftrag als Teil von Organisationsmustern
Systemisch betrachtet ist der Auftrag kein unabhängiges Steuerungselement, sondern ein Produkt und Bestandteil der bestehenden Muster im System.
Ein Auftrag spiegelt:
- Wie im System über Probleme und Lösungen gesprochen wird.
- Welche Akteur:innen Deutungsmacht besitzen.
- Welche Veränderungsgrenzen (explizit oder implizit) bestehen.
Gleichzeitig wirkt der Auftrag rekursiv auf das System zurück:
- Ein klar formulierter Auftrag kann neue Möglichkeitsräume schaffen.
- Ein vager oder widersprüchlicher Auftrag verstärkt bestehende Ambivalenzen.
- Ein in der Auftragsklärung erlebtes hohes Maß an Kohärenz und Transparenz fördert systemisches Vertrauen — ein unklarer oder unethisch konstruierter Auftrag schwächt es.
Zirkularität bedeutet: Mediator:innen, Berater:innen und Coaches sind in diesem Spiel nicht außenstehend, sondern Teil des Geschehens. Schon die Art und Weise, wie wir Aufträge klären, verändert das System. Systemische Auftragsklärung ist daher immer auch ein interventioneller Prozess.
Rolle und Haltung als stiller Begleiter / systemischer Prozessbegleiter
Diese Komplexität verlangt eine spezifische Rollen- und Haltungsklarheit.
Als stiller Begleiter und systemischer Prozessbegleiter gehe ich nicht davon aus, dass ich den „richtigen Auftrag“ erkenne oder definieren kann. Vielmehr ist meine Aufgabe:
- Den Reflexionsraum für die Klärung des Auftrags zu öffnen und zu halten.
- Widersprüche und Ambivalenzen transparent zu machen, ohne sie vorschnell zu bewerten.
- Meine eigene Rolle klar zu positionieren: Wofür bin ich da — und wofür nicht?
- Systemgrenzen und Loyalitäten bewusst zu machen, damit ich nicht unbemerkt in verdeckte Allianzen oder Rollenerwartungen gerate.
In dieser Haltung ist es hilfreich, sich der eigenen Perspektiven und Hypothesen bewusst zu sein — und die Kohärenzdimensionen des eigenen Erlebens (Sinn, Kognition, Emotion, Wahrnehmung, Körper, Verhalten) als Reflexionsgrundlage aktiv zu nutzen.
Zusammenfassung
Systemische Auftragsklärung unterscheidet sich von traditionellen, vertraglich geprägten Modellen durch folgende Leitgedanken:
- Aufträge sind prozesshaft und systemisch eingebettet.
- Ambivalenz und Mehrdeutigkeit sind normal und müssen sichtbar gemacht werden.
- Aufträge spiegeln bestehende Systemmuster wider und wirken ihrerseits systemverändernd.
- Berater:innen, Coaches und Mediator:innen sind Teil dieser Dynamik und tragen Verantwortung für ihre eigene Rollenklarheit und Prozessgestaltung.
Das 4-Felder-Modell bietet in dieser Logik eine hervorragende Strukturhilfe, um in der Auftragsklärung bewusst und differenziert zu arbeiten. In den folgenden Abschnitten zeige ich, wie es sich systemisch vertieft nutzen lässt.
3.1. Einführung und Aufbau des 4-Felder-Modells
Systemische Auftragsklärung erfordert Orientierungsmodelle, die sowohl Struktur geben als auch Tiefe und Reflexion ermöglichen. In meiner Praxis als Berater, Coach und Mediator hat sich dabei das 4-Felder-Modell als äußerst wirksames Grundgerüst erwiesen.
Das Modell liefert einen klaren Kompass, um die wichtigsten Dimensionen einer professionellen Auftragsklärung systematisch zu beleuchten. Es ist gleichzeitig so offen und flexibel, dass es verschiedene Prozessformen unterstützt:
- Mediation — insbesondere in der Organisationsmediation mit Dreierverträgen
- Systemische OE-Beratung — speziell in nicht-direktiver Beratung
- Coaching — sowohl in organisationalem als auch in privatem Kontext
In all diesen Feldern hilft das 4-Felder-Modell, den Blick zu weiten und eine systemische Grundhaltung zu bewahren.
Ursprung und Grundidee
Das 4-Felder-Modell dient ursprünglich dazu, Selbstklärung und Auftragsklärung strukturiert zu unterstützen.
Dabei stehen vier Felder im Zentrum der Reflexion:
- Personales Anliegen
→ Was ist mir persönlich wichtig in diesem Prozess? - Sachlicher Auftrag
→ Was soll formal und konkret im Rahmen dieses Prozesses erreicht werden? - Systemumfeld
→ In welchem organisationalen, institutionellen oder sozialen System bewegen wir uns? - Rolle / berufliches Selbstverständnis
→ In welcher Rolle trete ich in diesem Prozess auf — und mit welchem Rollenverständnis?
Diese vier Felder bilden gemeinsam eine landkartenartige Struktur, mit der Berater:innen, Coaches und Mediator:innen ihre eigene Positionierung im Prozess reflektieren können. Gleichzeitig dienen sie dazu, im Gespräch mit den Auftraggeber:innen und Beteiligten eine gemeinsame Auftragslandschaft sichtbar zu machen.
Warum 4 Felder?
Gerade im systemischen Arbeiten ist es hilfreich, nicht nur den formalen Auftrag (Was soll getan werden?) und das persönliche Anliegen (Was treibt mich an?) zu betrachten, sondern auch die Kontextdimension (Systemumfeld) und die Reflexion der eigenen Rolle explizit einzubeziehen.
- In Beratung und Coaching werden dadurch Übertragungen, Rollenerwartungen und Systemgrenzen bewusster.
- In Organisationsmediationen hilft das Modell, die komplexen Interessenlagen und Beziehungsmuster sichtbar zu machen, die gerade im Dreiervertrag oft implizit mitlaufen.
- In der nicht-direktiven OE-Beratung unterstützt es die eigene Haltung als Prozessbegleiter, der nicht als Experte für Lösungen, sondern als Impulsgeber für systemische Selbstreflexion agiert.
Kurz: Das 4-Felder-Modell fördert eine reflektierte, prozessorientierte und systemisch anschlussfähige Haltung in der Auftragsklärung.
Darstellung des Modells
In der Visualisierung steht das Modell häufig als einfache Vier-Felder-Matrix:

Dabei ist es wichtig zu betonen:
- Die Felder wirken zirkulär aufeinander ein — sie sind nicht linear zu verstehen.
- Die Arbeit mit dem Modell ist prozesshaft: Felder werden im Verlauf des Klärungsprozesses immer wieder ergänzt, geschärft und reflektiert.
- Das Modell ist kein Fragebogen, sondern ein Reflexionsrahmen — es lädt ein, in offenen Gesprächen und in der eigenen Supervision systemische Hypothesen zu entwickeln.
Anwendung in der Auftragsklärung
In der praktischen Auftragsklärung arbeite ich mit dem Modell in mehreren Schritten:
- Selbstklärung — vor dem ersten Kontakt oder Vorgespräch: Ich reflektiere für mich selbst alle vier Felder. Insbesondere das personale Anliegen und das Rollenverständnis sind oft unbewusst mitschwingende Faktoren.
- Dialogische Auftragsklärung — im Gespräch mit den Auftraggeber:innen und ggf. Klient:innen: Hier werden die vier Felder explizit gemacht und als gemeinsamer Bezugsrahmen formuliert.
- Prozessbegleitende Reflexion — während des Prozesses nutze ich das 4-Felder-Modell als Landkarte zur Prozesssteuerung: Verschiebt sich das Rollenverständnis? Wandelt sich der Auftrag? Verändert sich das Systemumfeld?
- Abschlussreflexion — am Ende des Prozesses ist es hilfreich, die Felder noch einmal zu betrachten: Was wurde erreicht, was hat sich verändert?
Gerade bei Mediationsprozessen im Organisationskontext erlebe ich das Modell als wertvolles Mittel, um:
- im Dreiervertrag Rollen- und Systemtransparenz zu schaffen,
- verdeckte Erwartungen sichtbar und besprechbar zu machen,
- und die eigene Haltung als stiller systemischer Prozessbegleiter klar zu positionieren.
Ausblick
Im nächsten Abschnitt stelle ich Ihnen die systemische Lesebrille für die vier Felder vor. Sie zeigt, wie wir das Modell mit systemisch fundierten Fragen und Hypothesen anreichern und dadurch eine noch tiefere, differenziertere Auftragsklärung gestalten können.
Dabei integrieren wir auch die Kohärenzfaktoren als qualitative Vertiefung — und zeigen die Verbindung zu weiteren systemischen Modellen wie dem 9-Felder-Modell.
3.2 Systemische Lesebrille für die vier Felder
Das 4-Felder-Modell bietet einen klaren Orientierungsrahmen für die Auftragsklärung.
Damit es in der Praxis seine volle Wirkung entfalten kann, ist es hilfreich, es mit einer systemischen Lesebrille zu ergänzen:
- Welche Fragen öffne ich im jeweiligen Feld?
- Welche Beobachtungsdimensionen beziehe ich bewusst ein?
- Wie erkenne ich Wechselwirkungen zwischen den Feldern?
Dabei nutze ich ergänzend die Kohärenzfaktoren (nach Rieforth) als vertiefende Dimension: Sie helfen, die Inhalte in den Feldern nicht nur rational zu erfassen, sondern auch emotional, körperlich und sinnorientiert zu reflektieren.
Die Kohärenzfaktoren lauten:
- Sinn- und Zielorientierung
- Kognition
- Emotion
- Wahrnehmung
- Körper
- Verhalten
Sie ermöglichen eine tiefere, mehrdimensionale Betrachtung jedes Feldes.
Im Folgenden zeige ich, wie sich diese systemische Lesebrille konkret auf die vier Felder anwenden lässt.
Feld 1: Personales Anliegen
Zentrale Fragen:
- Was ist mir persönlich wichtig in diesem Prozess?
- Welche Werte, Motive und Haltungen bringe ich ein?
- Welche persönlichen Antreiber könnten unbewusst mitschwingen?
- Wo könnte es innere Ambivalenzen geben?
Beobachtungspunkte:
- Eigenes Rollenverständnis als Berater:in / Coach / Mediator:in
- Loyalitäten gegenüber bestimmten Systemanteilen (bewusst oder unbewusst)
- Passung zwischen persönlichem Anliegen und Auftraggeber-Erwartungen
Vertiefung durch Kohärenzfaktoren:
- Sinn: Wofür lohnt es sich für mich, in diesem Prozess Energie zu investieren?
- Kognition: Welche Überzeugungen und Annahmen prägen mein Anliegen?
- Emotion: Welche Gefühle sind mit meinem Anliegen verbunden?
- Wahrnehmung: Worauf richte ich meine Aufmerksamkeit in diesem Prozess besonders stark?
- Körper: Wie spüre ich mein Engagement oder meine Skepsis im Körper?
- Verhalten: Wie zeigt sich mein Anliegen konkret im bisherigen Prozessverhalten?
Feld 2: Sachlicher Auftrag
Zentrale Fragen:
- Was soll formal und konkret erreicht werden?
- Welche Erfolgskriterien existieren explizit — und welche implizit?
- Wer definiert im System, was als “gelungener” Prozess gilt?
- Welche unbesprochenen Nebenaufträge könnten mitschwingen?
Beobachtungspunkte:
- Diskrepanzen zwischen formaler Zieldefinition und Systemlogik
- Erwartungen verschiedener Akteur:innen (Auftraggeber, Klient:innen, Umfeld)
- Potenzielle Konflikte zwischen offiziellen und verdeckten Aufträgen
Vertiefung durch Kohärenzfaktoren:
- Sinn: Welche Sinnzuschreibung geben die Beteiligten dem Auftrag?
- Kognition: Welche expliziten und impliziten Annahmen stecken im formulierten Auftrag?
- Emotion: Welche emotionalen Reaktionen löst der Auftrag bei den Beteiligten aus?
- Wahrnehmung: Welche Aspekte der Auftragssituation werden betont, welche übersehen?
- Körper: Wie zeigen sich Spannungen oder Stimmigkeit bei der Besprechung des Auftrags?
- Verhalten: Wie äußert sich der Umgang mit dem Auftrag im bisherigen Prozessverhalten der Beteiligten?
Feld 3: Systemumfeld
Zentrale Fragen:
- In welchem System bewegen wir uns?
- Welche formalen und informellen Strukturen prägen das Umfeld?
- Welche Kommunikationsmuster und Systemlogiken sind erkennbar?
- Wo bestehen systemische Paradoxien oder Tabuzonen?
Beobachtungspunkte:
- Machtstrukturen und Deutungsmuster im System
- Systemische Loyalitäten und Zugehörigkeitsdynamiken
- Umgang des Systems mit Veränderung und Irritation
Vertiefung durch Kohärenzfaktoren:
- Sinn: Welches implizite Sinnsystem hält das aktuelle Systemumfeld stabil?
- Kognition: Welche dominanten Narrative und Erzählungen kursieren im System?
- Emotion: Wie wird emotional auf Störungen oder Irritationen reagiert?
- Wahrnehmung: Welche Systemaspekte sind sichtbar — und welche werden systematisch ausgeblendet?
- Körper: Welche somatischen Resonanzen zeigen sich im Kontakt mit dem Systemumfeld?
- Verhalten: Welche typischen systemstabilisierenden oder -vermeidenden Verhaltensmuster sind erkennbar?
Feld 4: Rolle / berufliches Selbstverständnis
Zentrale Fragen:
- In welcher Rolle gehe ich in den Prozess?
- Welche expliziten und impliziten Rollenerwartungen existieren?
- Welche Rollenkonflikte oder Verführungspotenziale sind erkennbar?
- Wie möchte ich mich selbst in diesem Prozess positionieren?
Beobachtungspunkte:
- Eindeutigkeit und Integrität der eigenen Rollendefinition
- Erwartungsmanagement gegenüber verschiedenen Systemakteur:innen
- Umgang mit möglichen Rollendiffusionen im Prozessverlauf
Vertiefung durch Kohärenzfaktoren:
- Sinn: Welche Bedeutung messe ich meiner eigenen Rolle in diesem Prozess bei?
- Kognition: Welche inneren Leitbilder und Überzeugungen prägen mein Rollenverständnis?
- Emotion: Welche Gefühle begleiten mich in dieser Rolle?
- Wahrnehmung: Worauf bin ich in meiner Rolle besonders sensibilisiert?
- Körper: Wie spüre ich Passung oder Irritation in meiner Rollengestaltung?
- Verhalten: Wie zeigt sich mein Rollenverständnis konkret im Prozessverhalten?
Fazit
Mit dieser systemischen Lesebrille wird das 4-Felder-Modell zu einem lebendigen Reflexionsinstrument.
Es ermöglicht nicht nur die inhaltliche Klärung der vier Felder, sondern fördert auch die Bewusstheit für implizite Dynamiken und Wechselwirkungen.
Gerade in Organisationsmediationen mit Dreierverträgen und in nicht-direktiver OE-Beratung ist diese Tiefe besonders wichtig. Hier entscheiden oft subtile Sinn-, Wahrnehmungs- und Rollenaspekte darüber, ob ein Prozess tragfähig und wirksam gestaltet werden kann.
Im nächsten Abschnitt zeige ich, wie sich diese systemische Vertiefung im Zusammenspiel mit dem 9-Felder-Modell weiter konkretisieren lässt.
4. Vertiefung durch das 9-Felder-Modell (9FM)
Das 4-Felder-Modell bildet in der Auftragsklärung eine strukturierte Grundlage:
Es hilft, die Klärung auf den Ebenen Anliegen, Auftrag, Systemumfeld und Rolle bewusst und reflektiert zu führen.
Doch in vielen komplexen Beratungs-, Mediations- und Coachingprozessen reicht es nicht aus, diese vier Perspektiven allein zu betrachten. Häufig zeigt sich: Die hinter dem Auftrag stehenden Problemdynamiken, Ressourcen und Interessen sind vielschichtig, historisch geprägt und im System verteilt.
Hier bietet das 9-Felder-Modell (9FM) nach Prof. Joseph Rieforth eine wertvolle Ergänzung. Es ermöglicht eine detaillierte Kontext- und Interessenanalyse und hilft, verborgene Dynamiken sichtbar zu machen, die in der Auftragsklärung eine zentrale Rolle spielen.
Das 9FM im Überblick
Das 9FM strukturiert die Reflexion entlang von zwei Achsen:
- Zeitdimension: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
- Perspektiven: Problem, Ressourcen, Interessen
Daraus ergeben sich die neun Felder:
Vergangenheit | Gegenwart | Zukunft | |
---|---|---|---|
Problem | Vergangenheitsproblem | Gegenwartsproblem | Zukunftsproblem |
Ressourcen | Vergangenheitsressourcen | Gegenwartsressourcen | Zukünftige Ressourcen |
Interessen | Vergangene Interessen | Gegenwärtige Interessen | Zukünftige Interessen |
Diese Matrix eröffnet eine systematische Analyse:
- Wie hat sich das aktuelle Thema entwickelt?
- Welche Ressourcen stehen zur Verfügung?
- Welche Interessen und Bedürfnisse wirken aktuell und künftig im System?
Nutzen des 9FM für die systemische Auftragsklärung
Das 9FM ergänzt das 4-Felder-Modell auf mehreren Ebenen:
Erweiterung der Zeitdimension
Während das 4FM primär die aktuelle Prozessarchitektur betrachtet (Was steht im Raum? Mit welchen Haltungen gehen wir hinein?), hilft das 9FM, die Entwicklungsgeschichte und Zukunftsperspektiven eines Themas systematisch zu reflektieren.
Gerade in der Arbeit mit Organisationen und Teams zeigt sich oft, dass aktuelle Aufträge auf lange historische Dynamiken zurückgehen — oder dass verdeckte Zukunftsängste einen Auftrag unbewusst mitsteuern.
Differenzierte Bearbeitung von Interessen
Das 4FM spricht im Feld Systemumfeld und im Feld Sachlicher Auftrag zwar implizit Interessenlagen an — doch diese lassen sich mit dem 9FM deutlich präziser und strukturierter erfassen.
- Welche Interessen waren in der Vergangenheit prägend?
- Welche aktuellen Interessen sind offen sichtbar — und welche eher tabuisiert?
- Welche Zukunftsinteressen sollten in der Auftragsklärung explizit berücksichtigt werden?
Gerade in Dreierverträgen (z. B. in der Organisationsmediation) ist diese Unterscheidung hoch relevant: Nicht selten divergieren die Interessen von Auftraggeber, Klientensystem und Berater:in deutlich.
Ressourcenorientierte Prozessgestaltung
Das 9FM lädt explizit dazu ein, systematisch nach Ressourcen zu suchen:
- Welche erfolgreichen Muster und Kompetenzen existieren bereits im System?
- Welche Ressourcen stehen aktuell zur Verfügung?
- Welche Ressourcenpotenziale können für die Zukunft aktiviert werden?
In einer ressourcenorientierten Auftragsklärung wird so von Anfang an eine Perspektive auf das Mögliche und Unterstützende eingebracht — statt sich ausschließlich am Defizit zu orientieren.
Integration von 9FM und 4FM in der Praxis
In der Auftragsklärung nutze ich das 9FM typischerweise in folgender Weise ergänzend zum 4FM:
- Selbstklärung / Vorbereitung: Vor der ersten Auftragsklärung reflektiere ich intern das 9FM entlang der neun Felder, um Hypothesen und Fragen für das Erstgespräch zu entwickeln.
- Dialogische Auftragsklärung: Im Gespräch nutze ich Elemente des 9FM, um systemisch fundierte Fragen einzubringen — ohne das Modell explizit als „Struktur“ zu präsentieren. Beispiel: „Welche Interessen waren früher bei diesem Thema besonders wichtig?“ oder „Welche Ressourcen sehen Sie heute im System, die wir nutzen können?“
- Prozessbegleitend: Im Verlauf nutze ich das 9FM immer wieder, um Veränderungen in den Feldern sichtbar zu machen und den Auftrag an die sich entwickelnde Systemdynamik anzupassen.
Verbindung zur Systemischen Lesebrille
Das 9FM arbeitet hervorragend im Zusammenspiel mit der in Abschnitt 3.2 beschriebenen systemischen Lesebrille des 4FM.
Während die Kohärenzfaktoren die qualitative Tiefe der einzelnen Felder anregen, erweitert das 9FM die zeitliche und systemische Kontextperspektive.
Beispiel:
Im Feld Sachlicher Auftrag (4FM) frage ich mit Blick auf das 9FM:
- Gegenwartsinteressen: Wer verfolgt aktuell welche Ziele mit diesem Auftrag?
- Vergangenheitsinteressen: Welche historischen Interessen wirken verdeckt weiter?
- Zukunftsinteressen: Welche Interessen könnten im weiteren Prozessverlauf noch entstehen?
So entsteht eine dynamisch reflektierende Auftragsklärung, die nicht bei der formalen Auftragserteilung stehen bleibt, sondern systemische Prozessführung ermöglicht.
Fazit
Das 9-Felder-Modell erweitert das 4-Felder-Modell der Auftragsklärung um eine zeitliche Tiefendimension und eine differenzierte Betrachtung von Interessen und Ressourcen.
Gerade in komplexen, organisationsbezogenen Settings erhöht es die Qualität und Tragfähigkeit der Auftragsklärung deutlich.
In meiner Praxis hat sich der Einsatz des 9FM insbesondere in folgenden Kontexten bewährt:
- Organisationsmediationen mit Dreiervertrag
- nicht-direktive OE-Beratung
- Coaching im organisationalen Kontext mit vielschichtigen Stakeholder-Erwartungen
Im nächsten Abschnitt zeige ich, wie sich diese systemische Auftragsklärung besonders in Dreiervertragskontexten nutzen lässt — und welche Chancen und Fallstricke sich dabei ergeben.
5. Besonderheiten in der Auftragsklärung mit Dreiervertrag
Gerade in Organisationsmediationen und in beratungsgestützten Veränderungsprozessen in Unternehmen und Institutionen begegnen wir häufig Situationen, in denen nicht nur zwei Parteien im Beratungs- oder Mediationsprozess verbunden sind, sondern drei:
- Der Auftraggeber (z. B. Führungskraft, HR, Geschäftsführung, öffentliche Verwaltung)
- Die Klient:innen (z. B. Team, Mitarbeiter:innen, Konfliktbeteiligte)
- Der Mediator / Coach / Berater
In solchen Mehrpersonensystemen ist der klassische Zweiervertrag nicht ausreichend.
Hier braucht es den Dreiervertrag — ein Konzept, das von Fanita English in den 1970er-Jahren in die Transaktionsanalyse eingeführt und heute in der systemischen Praxis breit genutzt wird.
Ein sauber geführter Dreiervertrag ist zugleich ein zentrales Element einer systemisch fundierten Auftragsklärung.
Er sichert von Anfang an Transparenz, Rollenklarheit und Vertrauen im System — und schützt alle Beteiligten vor unausgesprochenen Erwartungen, Loyalitätskonflikten und Rollendiffusion.
Ziel und Struktur des Dreiervertrags
Ein Dreiervertrag klärt systematisch:
- Wer (Auftraggeber) beauftragt wen (Mediator:in / Berater:in / Coach), mit wem (Klient:innen) woran (Ziel und Thema des Prozesses) zu arbeiten.
- Welche Rollen und Verantwortlichkeiten die drei Parteien jeweils im Prozess tragen.
- Welche Kommunikations- und Berichtspflichten bestehen — und wo Vertraulichkeit gilt.
- Wie mit Spannungen und Zielkonflikten im Verlauf des Prozesses umgegangen wird.
Das Grundmodell unterscheidet drei klare Positionen:
Rolle | Funktion im Dreiervertrag |
---|---|
Auftraggeber | Formuliert Auftrag und Rahmen, sichert Ressourcen |
Klient:innen | Gestalten die Arbeit inhaltlich im Prozess |
Berater:in / Mediator:in / Coach | Steuert den Prozess methodisch und prozessual |
Ein reflektierter Dreiervertrag wird in einem gemeinsamen Auftaktgespräch geschlossen — oft unter expliziter Bezugnahme auf das 4-Felder-Modell.
Beispielhafte Klärungsfragen dabei:
- Was ist das konkrete Anliegen des Auftraggebers?
- Was wünschen sich die Klient:innen vom Prozess?
- Was soll die Rolle der Prozessbegleitung sein — und was explizit nicht?
- Was darf an wen zurückgespiegelt werden — was bleibt vertraulich?
Integration des Dreiervertrags in die Felder des 4FM
Gerade in der Arbeit mit dem 4-Felder-Modell lässt sich der Dreiervertrag hervorragend integrieren und systemisch reflektieren:
Feld 1: Personales Anliegen
- Hier reflektiert die Prozessbegleitung eigene Haltungen und Loyalitäten:
→ Bin ich zu sehr dem Auftraggeber verpflichtet?
→ Neige ich dazu, mich zu stark mit den Klient:innen zu identifizieren?
→ Wie bleibe ich allparteilich und systemisch bewusst?
Feld 2: Sachlicher Auftrag
- Hier ist eine saubere, gemeinsame Formulierung zwischen den drei Parteien essenziell:
→ Was ist der formale Auftrag?
→ Was sind verdeckte Nebenaufträge, die es offen zu legen gilt?
→ Wie offen darf / soll sich der Prozess entwickeln?
Feld 3: Systemumfeld
- Der Dreiervertrag muss die systemischen Bedingungen reflektieren:
→ Wie ist die Macht- und Hierarchiestruktur im System?
→ Welche impliziten Erwartungen könnten im Prozess wirken?
→ Wie schützt der Vertrag den Prozess vor systemischen Vereinnahmungsversuchen?
Feld 4: Rolle / berufliches Selbstverständnis
- Der Dreiervertrag hilft, eine klare Rollendefinition zu sichern:
→ Was ist meine Rolle als Prozessbegleiter?
→ Wo sind die Grenzen dieser Rolle?
→ Wie gehe ich mit Verführungen oder Rollenerwartungen im Prozessverlauf um?
Chancen und typische Fallstricke
Ein klar formulierter Dreiervertrag bietet folgende Chancen:
- Er schützt die Autonomie der Klient:innen → die Prozessarbeit bleibt vertrauensvoll und eigenverantwortlich.
- Er klärt die Verantwortung des Auftraggebers → etwa für die organisatorischen Rahmenbedingungen.
- Er schafft eine verlässliche, transparente Basis für die Arbeit im Dreieck → das verhindert Rollenkonflikte und unerwünschte Loyalitätsverschiebungen.
Gleichzeitig birgt die Arbeit mit Dreierverträgen typische Fallstricke:
- Verdeckte Allianzen → wenn Auftraggeber und Prozessbegleitung informell zusammenwirken, verlieren die Klient:innen Vertrauen.
- Unklare Vertraulichkeit → wenn nicht transparent geklärt wird, was an wen berichtet wird.
- Überdehnung der Rolle der Berater:innen / Mediator:innen → z. B. wenn diese implizit als Change Manager oder interne Interessenvertreter vereinnahmt werden.
Hier ist eine hohe Rollenklarheit und laufende Selbstreflexion (z. B. mit der systemischen Lesebrille aus Abschnitt 3.2) unabdingbar.
Verweis auf weiterführenden Artikel
Für eine vertiefte Darstellung des Dreiervertrags empfehle ich meinen eigenen Beitrag:
Dreierverträge in der Transaktionsanalyse: Rollenklarheit und Systemtransparenz
Dort finden Sie:
- eine detaillierte Darstellung der Vertragslogik
- Hinweise zum Umgang mit typischen Dynamiken im Prozess
- Praxisbeispiele aus Organisationsmediation und systemischer Beratung
Fazit
Gerade in komplexen Mehrpersonensystemen ist der Dreiervertrag ein zentrales Element systemischer Auftragsklärung.
In Verbindung mit dem 4-Felder-Modell ermöglicht er:
- Transparenz und Klarheit im Prozessdreieck
- Schutz der Prozessqualität
- Souveränes Rollenmanagement der Prozessbegleitung
Für jede Organisationsmediation, für OE-Prozesse und für Coaching in komplexen organisationalen Feldern empfehle ich die explizite Arbeit mit einem Dreiervertrag ausdrücklich.
Im nächsten Abschnitt betrachten wir nun, wie sich diese Prinzipien in den jeweiligen Prozessfeldern Beratung, Coaching und Mediation noch einmal spezifisch differenziert anwenden lassen.
6.1. Nicht-direktive Beratung in der OE
Gerade in Organisationsentwicklungsprozessen gewinnt die nicht-direktive Beratung zunehmend an Bedeutung.
Statt als Expert:innen für Inhalte oder als Change-Manager:innen aufzutreten, arbeiten systemisch orientierte Berater:innen bewusst als Prozessbegleiter:innen.
Ziel ist es, die Organisation und ihre Mitglieder zu unterstützen, eigene Lösungen zu entwickeln und ihre Systemkompetenz zu stärken.
Diese Haltung hat direkte Auswirkungen auf die Gestaltung der Auftragsklärung.
Gerade hier entscheidet sich, ob die Berater:innen ihre Rolle als stiller systemischer Prozessbegleiter klar und tragfähig positionieren können — oder ob sie in die Falle verdeckter Erwartungen geraten.
Spezifische Anforderungen an die Auftragsklärung
In der nicht-direktiven OE-Beratung besteht die zentrale Herausforderung darin, dass Organisationen häufig diffuse oder verdeckte Erwartungen an Berater:innen herantragen:
- Sie sollen „irgendwie helfen, dass es wieder läuft“.
- Sie sollen „den Widerstand auflösen“.
- Sie sollen „die Kultur verbessern“ oder „das Miteinander stärken“.
Solche unspezifischen Erwartungshaltungen bergen erhebliche Risiken:
- Der formale Auftrag bleibt vage und öffnet Raum für beliebige Rollenerwartungen.
- Berater:innen laufen Gefahr, ungewollt Steuerungsverantwortung zu übernehmen, die eigentlich bei der Organisation liegen sollte.
- Widersprüche im System werden nicht sichtbar, sondern in die Person der Berater:in hineinprojiziert.
Daher ist eine systemisch fundierte Auftragsklärung in diesem Kontext besonders wichtig.
Nutzung des 4-Felder-Modells in der Auftragsklärung
Gerade in der nicht-direktiven OE-Beratung ist das 4-Felder-Modell ein hervorragendes Instrument, um die Auftragsklärung differenziert und transparent zu gestalten.
Feld 1: Personales Anliegen
Berater:innen sollten sich frühzeitig darüber klar werden:
- Mit welchem inneren Anliegen gehe ich in diesen Beratungsauftrag?
- Wo könnten eigene Muster (z. B. Retter-Tendenzen) aktiviert werden?
- Wie bleibe ich in der Haltung eines prozessfokussierten, nicht-direktiven Begleiters?
Feld 2: Sachlicher Auftrag
Hier gilt es, im Dialog mit der Organisation folgende Aspekte klar zu klären:
- Was genau soll im Rahmen des Prozesses bearbeitet werden — und was nicht?
- Welche Verantwortung bleibt explizit bei der Organisation?
- Wie wird mit Themen umgegangen, die sich im Prozessverlauf möglicherweise zeigen, aber nicht Teil des aktuellen Auftrags sind?
Ein expliziter Hinweis auf die nicht-direktive Grundhaltung ist hier essenziell:
“Ich verstehe meine Rolle so, dass ich Prozesse begleite und die Organisation darin unterstütze, eigene Lösungen zu entwickeln — ich übernehme keine inhaltliche Steuerung.”
Feld 3: Systemumfeld
In der nicht-direktiven OE-Beratung spielt das Systemumfeld eine herausragende Rolle:
- Welche Machtstrukturen und Deutungsmuster sind im System wirksam?
- Wie geht die Organisation mit Ambivalenzen und Paradoxien um?
- Welche Tabus und blinden Flecken existieren?
Hier kann das 9FM ergänzend wertvolle Hinweise liefern:
- Welche historischen Interessen und Ressourcen wirken?
- Welche Gegenwartsinteressen sind offen — welche eher verdeckt?
- Welche Zukunftsinteressen sollten bewusst in die Prozessgestaltung einfließen?
Feld 4: Rolle / berufliches Selbstverständnis
In der Auftragsklärung sollte die eigene Rollendefinition explizit kommuniziert und reflektiert werden:
- Ich bin Prozessbegleiter, nicht Change Manager.
- Ich übernehme keine Führungsverantwortung.
- Ich unterstütze die Organisation darin, ihre eigenen Lern- und Veränderungsprozesse zu gestalten.
Typische Fragen an die Organisation können sein:
- Wie stellen Sie sich meine Rolle im Prozess konkret vor?
- Welche Erwartungen haben Sie an meine Unterstützung?
- Wo sehen Sie die Verantwortung der internen Führung und Steuerung im Veränderungsprozess?
Umgang mit verdeckten Erwartungen
Erfahrungsgemäß zeigt sich in der nicht-direktiven OE-Beratung häufig ein Spannungsfeld:
- Einerseits wird der Wunsch nach professioneller Prozessbegleitung formuliert.
- Andererseits bestehen implizite Erwartungen an inhaltliche Steuerung oder “Reparaturarbeit”.
Hier ist es essenziell, diese Ambivalenzen frühzeitig sichtbar zu machen und im Rahmen der Auftragsklärung zu thematisieren:
- Welche Aufgaben übernehme ich explizit?
- Wo sehe ich meine Grenzen?
- Was braucht die Organisation selbst, um ihre Veränderungsfähigkeit zu stärken?
Die Arbeit mit der systemischen Lesebrille (Abschnitt 3.2) und die Reflexion der Kohärenzfaktoren helfen hier, eigene und organisationale blinde Flecken frühzeitig zu erkennen.
Fazit
Gerade in der nicht-direktiven OE-Beratung ist die Auftragsklärung ein hochsensibler und entscheidender Prozessschritt:
- Sie schafft die Basis für eine klare Rollengestaltung.
- Sie schützt Berater:innen vor der Übernahme unpassender Erwartungen.
- Sie unterstützt die Organisation darin, Verantwortung für ihre eigene Entwicklung zu übernehmen.
Das 4-Felder-Modell und das 9-Felder-Modell bieten in diesem Kontext einen starken methodischen Rahmen, um die Auftragsklärung sowohl inhaltlich als auch prozessual differenziert und tragfähig zu gestalten.
Im nächsten Abschnitt betrachten wir, wie sich diese Prinzipien spezifisch im Coachingprozess umsetzen lassen — insbesondere bei Coachingaufträgen im organisationalen Kontext.
6.2 Coachingprozess
Die Auftragsklärung im Coachingprozess unterscheidet sich in wichtigen Punkten von der in OE-Beratung oder Organisationsmediation.
Coaching richtet sich meist an Einzelpersonen (Führungskräfte, Mitarbeitende, Projektleitende) und verfolgt in der Regel personenzentrierte Entwicklungsziele.
Gleichzeitig findet Coaching im organisationalen Kontext häufig in einem Mehrparteiensystem statt:
- Eine Führungskraft oder HR-Abteilung beauftragt das Coaching.
- Der/die Coachee soll Empfänger:in und aktive Gestalter:in des Coachingprozesses sein.
- Die Organisation hat Erwartungen an Wirkung und Ergebnis — formal oder informell.
Diese Konstellation birgt für die Auftragsklärung im Coaching spezifische Herausforderungen.
Ein klar strukturierter und systemisch reflektierter Klärungsprozess ist hier besonders wichtig, um Rollen, Grenzen und Ziele sauber zu definieren.
Spezifische Anforderungen an die Auftragsklärung im Coaching
In Coachingaufträgen aus Organisationen treten häufig folgende Spannungsfelder auf:
Offizielle Ziele vs. persönliche Anliegen:
Die Organisation formuliert Entwicklungsziele (z. B. “Führungskompetenz stärken”), während der Coachee vielleicht vorrangig persönliche Anliegen (z. B. Umgang mit Überlastung) mitbringt.Selbststeuerung vs. Steuerung durch die Organisation:
Ein wirksamer Coachingprozess erfordert Selbststeuerung des Coachees.
Gleichzeitig bestehen oft organisatorische Erwartungen an messbare Ergebnisse.Rollenunklarheiten:
Wo endet die Rolle des Coachs?
Erwartet die Organisation ein “Weißwaschungs-Coaching” (z. B. Loyalitätsveränderung)?
Oder ein wirklich offenes, autonomes Entwicklungsformat?
Hier hilft eine fundierte Auftragsklärung, die von Anfang an Transparenz und Rollenklarheit schafft.
Nutzung des 4-Felder-Modells im Coaching
Das 4-Felder-Modell ist auch im Coaching ein äußerst hilfreiches Instrument zur Strukturierung der Auftragsklärung — sowohl mit dem Auftraggeber als auch im direkten Vorgespräch mit dem Coachee.
Feld 1: Personales Anliegen
Für den Coach:
- Mit welchem persönlichen Anliegen gehe ich in diesen Auftrag?
- Wo könnte ich unbewusst Rollenerwartungen übernehmen (z. B. Retter, Berater, Veränderer)?
- Wie bleibe ich in einer haltungsklaren, personzentrierten Begleitung?
Feld 2: Sachlicher Auftrag
Im Gespräch mit Organisation und Coachee:
- Was ist der formale Auftrag? (aus Sicht des Auftraggebers)
- Was sind persönliche Anliegen und Ziele des Coachees?
- Wo liegen eventuelle Zielkonflikte zwischen Organisation und Coachee?
- Wie wird im Prozessverlauf mit solchen Zielkonflikten umgegangen?
Hier empfiehlt es sich, im Sinne der Kohärenzfaktoren (Abschnitt 3.2) explizit auf Sinn und Werteorientierung zu schauen:
- Was macht es für Sie sinnvoll, an diesem Thema zu arbeiten?
- Wie möchten Sie als Person und als Führungskraft/Teammitglied an dieser Aufgabe wachsen?
Feld 3: Systemumfeld
Gerade im organisationalen Coaching ist es wichtig, die systemischen Rahmenbedingungen bewusst zu reflektieren:
- Welche systemischen Erwartungen bestehen an den Coachee?
- Welche organisationalen Tabus oder blinden Flecken wirken im Umfeld?
- Welche impliziten Erfolgskriterien existieren — und sind diese mit dem persönlichen Anliegen kompatibel?
- Wie geht das System mit Scheitern oder Nicht-Erreichen von Erwartungen um?
Das 9FM ergänzt hier die Reflexion um folgende Fragen:
- Historische Dynamiken: Gab es frühere vergleichbare Coachingprozesse? Wie wurden diese im System bewertet?
- Zukunftsinteressen: Welche Entwicklungsrichtung verfolgt das System — und wie gut passt der aktuelle Coachingauftrag dazu?
Feld 4: Rolle / berufliches Selbstverständnis
Gerade im organisationalen Coaching ist eine klare Rollendefinition essenziell:
- Ich bin Coach für den Coachee — nicht Veränderungsagent für die Organisation.
- Ich stehe für prozessoffene Begleitung — nicht für ein vorgegebenes Ergebnis.
- Ich wahre die Vertraulichkeit gegenüber der Organisation — in den Grenzen des gemeinsam definierten Dreiervertrags.
Typische Fragen im Dreierklärungsgespräch können hier sein:
- Welche Informationen dürfen an den Auftraggeber zurückfließen — und in welcher Form?
- Wie sichern wir den Autonomieschutz des Coachees?
- Wer definiert, wann der Coachingprozess als erfolgreich gilt?
Umgang mit typischen Rollenkonflikten
In der Praxis zeigt sich, dass Rollenkonflikte im Coachingprozess besonders häufig auftreten.
Daher ist es hilfreich, folgende Dynamiken bewusst zu beobachten (und bei Bedarf frühzeitig zu thematisieren):
- Coach als Verhaltensoptimierer im Sinne der Organisation → unreflektierte Steuerungstendenz.
- Coach als “Komplize” des Coachees gegen das System → Einseitigkeit und Verlust der Prozessneutralität.
- Coach als “Moralinstanz” im System → Überdehnung der eigenen Rolle.
Hier hilft es, die Kohärenzfaktoren auch für die eigene Reflexion als Coach konsequent einzusetzen:
- Sinn: Wofür engagiere ich mich in diesem Coachingauftrag?
- Kognition: Welche impliziten Denkmuster prägen mein Rollenverhalten?
- Emotion: Welche Gefühle bewegen mich in der Zusammenarbeit mit Coachee und System?
- Körper: Wie spüre ich Passung oder Irritation in meiner Rolle?
Fazit
Gerade im Coachingprozess im organisationalen Kontext ist die systemische Auftragsklärung ein zentrales Element professioneller Praxis.
Das 4-Felder-Modell, ergänzt durch die Kohärenzfaktoren und das 9-Felder-Modell, bietet dabei einen leistungsfähigen Rahmen:
- Es unterstützt klare Rollen- und Erwartungsklärung.
- Es stärkt die Autonomie und Prozessverantwortung der Coachees.
- Es schützt Coaches vor impliziten Steuerungsanforderungen seitens der Organisation.
Im nächsten Abschnitt beleuchten wir, wie sich diese Prinzipien konkret auf die Organisationsmediation übertragen lassen — und wie der Dreiervertrag dabei als strukturgebendes Element wirksam wird.
6.3. Organisationsmediation
Organisationsmediation ist eines der komplexesten Felder professioneller Prozessbegleitung.
Hier treffen unterschiedliche Hierarchieebenen, Abteilungen, Rollenverständnisse und oft auch politische Interessen aufeinander.
Konflikte sind selten rein inhaltlich oder sachlich zu lösen — sie sind eingebettet in organisatorische Strukturen, Kulturen und Historien.
Die Auftragsklärung wird in diesem Kontext zum entscheidenden Moment:
→ Sie entscheidet darüber, wie tragfähig der Mediationsprozess gestaltet werden kann,
→ welche Rollen und Grenzen im Prozess klar sind,
→ und welche Dynamiken bewusst gesteuert und bearbeitet werden.
Ohne eine sorgfältige, systemisch fundierte Auftragsklärung droht die Organisationsmediation schnell zu einem instrumentellen Mittel organisationaler Machtdynamiken zu verkommen — anstatt zu einem Raum echter Verständigung und Entwicklung.
Typische Konstellation in der Organisationsmediation
In der Praxis begegnen wir häufig folgender Ausgangslage:
- Auftraggeber (z. B. Personalabteilung, Geschäftsführung, Behördenleitung)
→ wünscht Mediation zur Bearbeitung “schwieriger Teamkonflikte” oder “Störungen in der Zusammenarbeit”. - Konfliktbeteiligte / Mediand:innen (z. B. Teammitglieder, Führungskräfte)
→ sind oft ambivalent oder skeptisch gegenüber dem Verfahren. - Mediator:in
→ wird als neutrale Instanz beauftragt — häufig mit unklaren Erwartungen hinsichtlich Rolle, Ergebnis und Berichtspflichten.
In dieser Situation ist die explizite Nutzung des Dreiervertrags (vgl. Abschnitt 5) in Verbindung mit dem 4-Felder-Modell besonders hilfreich.
Nutzung des 4-Felder-Modells in der Organisationsmediation
Feld 1: Personales Anliegen
Für die Mediator:innen stellt sich die zentrale Frage:
- Mit welchem Anliegen gehe ich in diesen Mediationsprozess?
- Wie kann ich allparteilich und transparent bleiben — auch bei verdeckten systemischen Dynamiken?
- Wo könnte ich unbewusst in Loyalitätskonflikte geraten?
Die Reflexion mit den Kohärenzfaktoren (Abschnitt 3.2) unterstützt hier eine klare innere Haltung.
Feld 2: Sachlicher Auftrag
In der Dreierklärung mit Auftraggeber und Konfliktbeteiligten gilt es, folgende Aspekte transparent zu klären:
- Was ist explizit der Auftrag der Mediation?
(z. B. Bearbeitung eines konkreten Konflikts, Verbesserung der Teamkommunikation, Klärung von Rollen und Verantwortlichkeiten) - Was ist kein Teil des Auftrags?
(z. B. Führungskräftebewertung, Personalentscheidungen, juristische Aufarbeitung) - Welche Erwartungen bestehen an “Ergebnis” und “Erfolg”?
- Welche Vertraulichkeitsvereinbarungen gelten?
(insbesondere gegenüber dem Auftraggeber)
Gerade hier ist es wichtig, verdeckte Nebenaufträge sichtbar zu machen (z. B. “Wir wollen wissen, ob X überhaupt noch tragbar ist.”) und bewusst zu bearbeiten.
Feld 3: Systemumfeld
In kaum einem Setting ist das Feld Systemumfeld so entscheidend wie in der Organisationsmediation:
- Wie stabilisiert das System aktuell den Konflikt?
- Welche formalen und informellen Regeln wirken?
- Welche Machtstrukturen und Allianzen prägen das System?
- Welche kulturellen Muster (z. B. Konfliktvermeidung, Sündenbockmechanismen) sind wirksam?
- Welche Tabuzonen existieren?
Das 9-Felder-Modell bietet hier ergänzend eine hervorragende Matrix, um systematisch nach historischen Dynamiken, Ressourcen und Interessen zu fragen:
- Welche Vergangenheitsressourcen wurden in früheren Konflikten erfolgreich genutzt?
- Welche Gegenwartsinteressen bestehen auf unterschiedlichen Hierarchieebenen?
- Welche Zukunftsinteressen könnten im Mediationsprozess konstruktiv eingebracht werden?
Feld 4: Rolle / berufliches Selbstverständnis
Für die Mediator:innen ist eine glasklare Rollendefinition in der Auftragsklärung unabdingbar:
- Ich bin Mediator:in, nicht Change Manager:in, nicht Organisationsentwickler:in, nicht Personalberater:in.
- Ich steuere den Prozess der Verständigung — nicht die Inhalte oder die organisationalen Entscheidungsprozesse.
- Ich wahre Vertraulichkeit — innerhalb der im Dreiervertrag explizit vereinbarten Grenzen.
Gerade in der Organisationsmediation kommt es häufig zu Versuchen, die Mediator:innen als Steuerungsinstrument des Systems zu vereinnahmen.
Eine kontinuierliche Reflexion des eigenen Rollenverhaltens (mit Unterstützung der Kohärenzfaktoren) ist daher essenziell.
Umgang mit besonderen Dynamiken
Typische Dynamiken, die in der Organisationsmediation schon in der Auftragsklärung sichtbar werden sollten:
Instrumentalisierungstendenzen:
Auftraggeber will über die Mediation unliebsame Mitarbeitende aus dem System drängen.Delegation von Führungsverantwortung:
Führungskräfte versuchen, schwierige Entscheidungen “an die Mediation” zu delegieren.Ergebnisfixierung:
Erwartung, dass die Mediation innerhalb kurzer Zeit messbare Ergebnisse produziert.Verdeckte Machtspiele:
Nutzung der Mediation, um Allianzen oder Hierarchien informell zu verschieben.
Die systemische Lesebrille des 4FM und das 9FM sind hier unschätzbare Werkzeuge, um diese Dynamiken bewusst und offen zu thematisieren.
Fazit
Die Auftragsklärung in der Organisationsmediation ist kein technischer Formalakt, sondern ein hochsensibler, systemisch wirksamer Prozess.
Das 4-Felder-Modell, ergänzt durch den Dreiervertrag, die Kohärenzfaktoren und das 9-Felder-Modell, bietet hier einen tragfähigen Rahmen:
- Es schafft Transparenz und Klarheit im Prozessdreieck.
- Es schützt Mediator:innen vor Rollenverführung und Vereinnahmung.
- Es ermöglicht eine realistische und tragfähige Gestaltung der Prozessarchitektur.
Eine fundierte und bewusst geführte Auftragsklärung ist der beste Schutz vor späteren Prozessabbrüchen oder Vertrauensverlusten — und damit ein zentraler Erfolgsfaktor jeder professionellen Organisationsmediation.
Im nächsten Abschnitt betrachten wir die Fallstricke und Paradoxien, die systemische Auftragsklärung in all diesen Prozessen immer wieder begleiten — und wie wir ihnen begegnen können.
7. Fallstricke und Paradoxien in der systemischen Auftragsklärung
Systemische Auftragsklärung ist kein technisches Verfahren, sondern ein lebendiger sozialer Prozess.
Gerade weil sie in komplexen organisationalen Feldern stattfindet, ist sie von dynamischen Wechselwirkungen und unbewussten Erwartungen geprägt.
In der Praxis begegnen Mediator:innen, Berater:innen und Coaches dabei immer wieder typische Fallstricke und Paradoxien.
Diese bewusst wahrzunehmen — und proaktiv damit umzugehen — ist ein zentraler Bestandteil professioneller Auftragsklärung.
In diesem Abschnitt zeige ich die wichtigsten dieser Dynamiken auf und gebe Hinweise, wie wir ihnen systemisch angemessen begegnen können.
Verdeckte Aufträge und Loyalitätsfallen
Gerade in Organisationsmediationen und OE-Beratungsprozessen ist es üblich, dass neben dem formalen Auftrag verdeckte Erwartungen im System bestehen:
- “Eigentlich sollen Sie herausfinden, ob X noch tragbar ist.”
- “Sie sollen die Führungskraft in ihrer Position stärken.”
- “Sie sollen das Team befrieden, ohne die strukturellen Probleme anzugehen.”
Fallstrick:
Wenn diese Erwartungen nicht explizit bearbeitet werden, wird der/die Berater:in/Mediator:in implizit Teil der Systemdynamik.
Die Folge: Vertrauensverlust bei den Klient:innen oder Überforderung der Rolle.
Systemische Antwort:
- Explizite Klärung verdeckter Nebenaufträge in der Auftragsklärung.
- Nutzung des 4-Felder-Modells und des 9-Felder-Modells, um unterschiedliche Interessen sichtbar zu machen.
- Klare Kommunikation der eigenen Rollengrenzen.
Delegation von Verantwortung
Oft versuchen Organisationen oder Führungskräfte, über die Beauftragung von Mediation oder Beratung eigene Steuerungsverantwortung abzutreten:
- “Die Mediator:in soll das Problem lösen.”
- “Die Berater:in soll die Veränderung herbeiführen.”
Fallstrick:
Der/die Berater:in/Mediator:in wird zum scheinbar verantwortlichen Akteur, während die eigentlichen Systemträger (z. B. Führungskräfte) in eine Passivhaltung gehen.
Systemische Antwort:
- In der Auftragsklärung bewusst klären: Wer trägt welche Verantwortung im Prozess?
- Im Feld Rolle / berufliches Selbstverständnis eine klare Abgrenzung der Prozessrolle formulieren.
- Kontinuierliche Selbstreflexion mit den Kohärenzfaktoren: Wo droht unbewusste Verantwortungsübernahme?
Ergebnisfixierung und Erfolgserwartungen
Gerade bei komplexen Konflikten oder kulturellen Veränderungsprozessen bestehen häufig implizite oder explizite Erfolgserwartungen:
- “In drei Workshops soll alles geklärt sein.”
- “Nach der Mediation erwarten wir ein konfliktfreies Team.”
- “Das Coaching muss spürbare Verhaltensänderung bringen.”
Fallstrick:
Das Prozessdesign wird von Anfang an auf Ergebniserwartungen reduziert — statt auf Ermöglichung von Reflexion und Entwicklung ausgerichtet.
Systemische Antwort:
- In der Auftragsklärung bewusst zwischen Prozesszielen und Ergebniserwartungen unterscheiden.
- Realistische Prozessarchitektur entwickeln — auch im Dialog mit dem Auftraggeber.
- Frühzeitig systemische Zirkularität des Prozesses ansprechen: Erfolg entsteht aus dem Zusammenspiel der Systemakteur:innen, nicht aus der Leistung der Prozessbegleitung allein.
Rollendiffusion im Prozessverlauf
Gerade in längeren Prozessen (Organisationsmediation, OE-Begleitung, Coaching) ist es typisch, dass sich im Verlauf Rollenerwartungen verschieben:
- Berater:in wird plötzlich als Organisationsentwickler:in wahrgenommen.
- Mediator:in wird zur Teamtrainer:in gemacht.
- Coach wird als Change-Agent eingespannt.
Fallstrick:
Ohne bewusste Reflexion übernimmt die Prozessbegleitung Rollen, für die sie nicht beauftragt und nicht positioniert ist — und riskiert damit Rollenkonflikte und Vertrauensverluste.
Systemische Antwort:
- Kontinuierliche Reflexion des eigenen Rollenverhaltens mit dem 4-Felder-Modell und den Kohärenzfaktoren.
- Prozessschleifen einbauen: Regelmäßige Gespräche zur Reflexion von Rollen und Prozesszielen im Dreieck (Auftraggeber, Klientensystem, Prozessbegleitung).
- Grenzsetzung aktiv kommunizieren, wenn Rollenerwartungen überschritten werden.
Systemische Paradoxien
In vielen Kontexten sind Organisationen selbst ambivalent gegenüber Veränderung und Reflexion:
- Sie wünschen Offenheit — und pflegen zugleich kulturelle Tabus.
- Sie wollen Dialog — und behalten gleichzeitig rigide Steuerungsmodelle bei.
- Sie beauftragen Mediation — und entziehen gleichzeitig der Führung ihre Verantwortung.
Fallstrick:
Unbewusst übernimmt die Prozessbegleitung die Aufgabe, systemische Paradoxien aufzulösen, die im System selbst stabilisierend wirken.
Systemische Antwort:
- Systemische Paradoxien in der Auftragsklärung explizit thematisieren.
- Im Prozess immer wieder Meta-Reflexion ermöglichen: Was geschieht im System im Umgang mit dem Prozess selbst?
- Nicht in die Lösungsfalle gehen — systemische Paradoxien sind oft nicht auflösbar, sondern müssen bewusst gehalten und reflexiv gestaltet werden.
Fazit
Fallstricke und Paradoxien sind kein Fehler, sondern strukturelle Bestandteile systemischer Auftragsklärungsprozesse.
Professionelle Prozessbegleiter:innen zeichnen sich dadurch aus, dass sie:
- diese Dynamiken frühzeitig wahrnehmen,
- sie offen ansprechbar machen,
- sich ihrer eigenen Rollen- und Systemanteile bewusst sind,
- und den Mut haben, Ambivalenzen bewusst zu halten, anstatt sie vorschnell “wegzumoderieren”.
Das 4-Felder-Modell, ergänzt durch die Kohärenzfaktoren und das 9-Felder-Modell, bietet dafür eine belastbare und praxisnahe Grundlage.
Im abschließenden Abschnitt fasse ich die zentralen Impulse zusammen und gebe Hinweise für die weitere Praxis.

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8. Fazit und Impulse für die Praxis
Auftragsklärung ist in der systemischen Praxis kein formaler Akt, sondern ein zentraler Bestandteil der Prozessgestaltung.
Sie ist mehrdimensional: ein fachlicher, ein relationaler und ein selbstreflexiver Prozess zugleich.
Gerade in komplexen Kontexten — sei es in der Organisationsmediation, im Coaching organisationaler Akteur:innen oder in der nicht-direktiven OE-Beratung — entscheidet die Qualität der Auftragsklärung maßgeblich darüber, ob ein Prozess:
- tragfähig,
- rollenstabil,
- und anschlussfähig an die reale Systemlogik gestaltet werden kann.
In diesem Artikel habe ich aufgezeigt, wie die systemische Auftragsklärung durch folgende Modelle und Haltungen unterstützt werden kann:
- Das 4-Felder-Modell als strukturierender Reflexionsrahmen für Anliegen, Auftrag, Systemumfeld und Rolle.
- Das 9-Felder-Modell als vertiefende Matrix für die Erkundung von Interessen, Ressourcen und Problemdynamiken im Zeitverlauf.
- Die Kohärenzfaktoren als qualitative Vertiefung der Wahrnehmung und Reflexion in jedem Feld.
- Der Dreiervertrag als elementares Instrument zur Gestaltung von Klarheit und Transparenz in Mehrparteiensystemen.
Auftragsklärung als kontinuierlicher Reflexionsprozess
Ein zentrales systemisches Prinzip lautet:
Aufträge sind nicht statisch, sondern dynamisch und zirkulär.
Das bedeutet für die Praxis:
- Auftragsklärung endet nicht nach dem Erstgespräch.
- Vielmehr muss der Auftrag laufend reflektiert und ggf. nachjustiert werden.
- Verdeckte Nebenaufträge, veränderte Erwartungen und neue systemische Dynamiken gehören zum Alltag professioneller Prozessführung.
Das 4-Felder-Modell eignet sich hervorragend, um diese Reflexion strukturiert und dialogisch zu führen — sowohl intern im Team der Prozessbegleitung als auch im Dialog mit Auftraggebern und Klientensystem.
Professionalität durch Haltung
Neben der methodischen Struktur braucht es vor allem eine systemische Haltung, um Auftragsklärung professionell zu gestalten:
- Allparteilichkeit und Transparenz: gegenüber allen am Prozess Beteiligten.
- Mut zur Thematisierung von Ambivalenzen: statt vorschneller Harmonisierung.
- Klarheit über die eigene Rolle und deren Grenzen: auch und gerade in komplexen, dynamischen Feldern.
- Respekt vor der Eigenlogik und Selbststeuerungsfähigkeit des Systems: statt Interventionshubris.
Gerade in der Auftragsklärung zeigt sich, wie tragfähig diese Haltung wirklich ist.
Wer sie hier nicht einbringt, wird sie im weiteren Prozessverlauf kaum nachholen können.
Empfehlungen für die eigene Praxis
Zum Abschluss einige ganz praktische Impulse, die sich in meiner eigenen Arbeit immer wieder bewährt haben:
Selbstklärung vor Auftragsklärung:
Reflektiere die eigenen vier Felder und Kohärenzfaktoren, bevor du in ein Klärungsgespräch gehst.Bewusste Prozessarchitektur:
Plane die Auftragsklärung als eigenständige Prozessphase — nicht als Nebenprodukt der ersten Sitzung.Explizite Gestaltung des Dreiervertrags:
Gerade in Organisationskontexten: Dreiervertrag nicht “mitlaufen lassen”, sondern bewusst gestalten und dokumentieren.Regelmäßige Prozessschleifen:
Baue im Prozess Reflexionspunkte zur Auftrags- und Rollenklarheit ein — z. B. bei Halbzeit oder bei erkennbaren Spannungsverschiebungen.Bewusstes Thematisieren von Paradoxien:
Habe den Mut, systemische Paradoxien und Ambivalenzen im System offen anzusprechen — und halte sie bewusst im Prozessraum.
Weiterführende Entwicklung
Die hier dargestellten Modelle und Impulse können und sollen kontinuierlich weiterentwickelt werden.
In der Praxis zeigt sich immer wieder: Jeder Auftragsklärungsprozess ist einzigartig — weil jedes System seine eigene Logik, Kultur und Dynamik entfaltet.
Daher lade ich alle Kolleg:innen ein:
- die hier gezeigten Modelle flexibel zu nutzen,
- sie mit eigenen Erfahrungen und Perspektiven anzureichern,
- und den Prozess der Auftragsklärung als gemeinsame Lernreise mit Auftraggebern und Klientensystemen zu gestalten.
Denn gerade in einer Welt zunehmender Komplexität und Veränderung brauchen wir keine vorgefertigten Lösungen, sondern reflektierte, dialogische Prozessgestaltung — und diese beginnt immer bei der Auftragsklärung.
Für die praktische Umsetzung finden Sie im Anhang A eine kompakte Checkliste zur systemischen Auftragsklärung.
Weiterführend empfohlen
- Das 9-Felder-Modell systemisch anwenden
- Kohärenzfaktoren nach Rieforth – systemische Vertiefung der 9-Felder-Methode
- Dreierverträge in der Transaktionsanalyse: Rollenklarheit und Systemtransparenz
Wenn Sie systemische Auftragsklärung in Ihrer Organisation oder für Ihren nächsten Beratungsprozess gezielt stärken möchten, lade ich Sie herzlich zu einem unverbindlichen Erstgespräch ein. Buchen Sie direkt einen Termin über meinen Kalender