Zyklus der Hypothesenarbeit im systemischen Denken
Mediator Sweti

Einleitung
Im Artikel „Hypothesenbildung: Systemische Klarheit statt vorschneller Deutung“ hast du bereits eine solide Einführung in die Bedeutung von Hypothesen in Beratung, Coaching und Mediation erhalten: Hypothesen als vorläufige Denkangebote, keine Diagnosen, vielmehr Fokus auf Beobachtung und Sinnbildung.
In diesem Beitrag gehen wir einen Schritt weiter: Wir betrachten den Zyklus der Hypothesenarbeit – also wie Hypothesen systemisch tatsächlich entstehen, geprüft und weiterentwickelt werden. Diese Sichtweise gibt dir ein strukturiertes Arbeitsmodell, das du in der Praxis (Teams, Einzelberatung, Mediation) anwenden kannst.
Der Zyklus der Hypothesenarbeit: Überblick
Der Zyklus besteht aus fünf zentralen Stationen:
- Wahrnehmen & Unterscheiden
- Hypothese bilden
- Beobachten & Prüfen
- Plausibilität reflektieren
- Eigenverantwortlich anpassen
Im Zentrum dieses Zyklus steht die Überlegung: Jede Hypothese ist Ausdruck einer konstruierten Wirklichkeit, einer Beobachtung zweiter Ordnung. In Anlehnung an Niklas Luhmann könnte man sagen: Hypothesen sind Angebote, wie das System (Klient:in/Team/Organisation) sich selbst beobachten könnte.
Typische Mikro-Situation aus der Praxis
Stellen Sie sich eine Teamberatung vor: In einem Projektteam fällt auf, dass regelmäßig kurzfristig Aufgaben umverteilt werden – und ein Teammitglied sichtbar frustriert reagiert („Ich wusste gar nicht …, dann kam die Änderung …“).
Station 1 – Wahrnehmen & Unterscheiden:
Der Berater nimmt wahr: „Immer, wenn X → Y umverteilt wird, zieht sich Z zurück.“ Er unterscheidet: Nicht die Umverteilung als solche zählt – sondern die Reaktion von Z.
Station 2 – Hypothese bilden:
Mögliche Formulierung: „Es könnte sein, dass Z die Umverteilung als Verlust von Autonomie erlebt und sich deshalb zurückzieht.“ Diese Hypothese ist bewusst vorläufig, im Konjunktiv formuliert, und bietet eine Deutung, die nicht als endgültige Wahrheit daherkommt.
Station 3 – Beobachten & Prüfen:
Der Berater beobachtet in den folgenden Sitzungen gezielt, wie Z auf ähnliche Umverteilungen reagiert: Gibt es körperliche Signale (Schweigen, Blicksenken), gibt es Rückzug oder Rückfragen? Er stellt Fragen wie: „Wie erlebst du, wenn Aufgaben kurzfristig verschoben werden?“
Station 4 – Plausibilität reflektieren:
Er fragt sich (und ggf. mit dem Team): Fühlt sich die Hypothese anschlussfähig an? Leuchten die beobachteten Muster? Oder wurde etwas Wichtiges übersehen (z. B. eine Gruppe von Stakeholdern, die Druck macht)? Hier ist keine Bewertung auf „richtig“ oder „falsch“ angesagt, sondern eine Prüfung auf Sinn- und Anschlussfähigkeit.
Station 5 – Eigenverantwortlich anpassen:
Der Berater entscheidet: Behalte ich die Hypothese, modifiziere ich sie oder verwerfe ich sie? Vielleicht lautet die neue Hypothese: „Z reagiert weniger auf Autonomieverlust als auf mangelnde Partizipation bei Entscheidungsprozessen.“ Die Beobachtungsschleife beginnt von vorne – mit dem veränderten Wahrnehmungsfokus.
Schrittweise Erläuterung
1. Wahrnehmen & Unterscheiden
Bevor eine Hypothese entsteht, braucht es eine bewusste Beobachtung: Was fällt ins Auge, was wiederholt sich, was irritiert? Dies ist bereits Beobachtung zweiter Ordnung: Nicht nur was geschieht, sondern wie das System es verarbeitet. Die Unterscheidung „regelmäßig/ungewöhnlich“, „ausgesprochen/implizit“ etc. öffnet den Blick für Systemdynamiken.
2. Hypothese bilden
Die Hypothese ist ein denkbares Angebot für das System, eine neue Sichtweise – keine Diagnose, keine fixe Erklärung. Im systemischen Sinne ist sie eine Beobachtung über Beobachtungen: „Ich nehme wahr, dass ich diese Reaktion so interpretiere – könnte es auch anders sein?“ Die Formulierung im Konjunktiv betont die Vorläufigkeit und lädt zur Reflexion ein.
3. Beobachten & Prüfen
Hypothesen sind keine Soll-Aussagen („muss so sein“), sondern Anregungen, was geschehen könnte. Der Prüfschritt ist aktiv und prozesshaft: Welche Wirkungen hat es, wenn ich diese Hypothese im Gespräch oder in der Intervention anbiete? Welche Reaktionen erzeugt das? Hier zeigt sich: Systemische Hypothesen werden nicht verifiziert, sondern auf ihre Anschlussfähigkeit hin geprüft.
4. Plausibilität reflektieren
In der systemischen Haltung ersetzt Plausibilität das Wahrheitssystem. Eine Hypothese gilt als „gut“, wenn sie Anschluss findet, weiterführende Fragen ermöglicht und das System-Geschehen erklärbarer macht. Der Reflexionsprozess fragt danach: Führt die Hypothese zu Bewegung? Bleibt sie stehen? Wird sie abgelehnt? Ziel ist nicht Anpassung ans Urteil, sondern bewusste Entscheidung über ihre Relevanz.
5. Eigenverantwortlich anpassen
Die Verantwortung für Hypothesenarbeit liegt beim Beratenden bzw. Prozessbegleiter – nicht beim System allein. Dieser Schritt bedeutet: Ich entscheide, was mit meiner Hypothese geschieht. Ich halte sie, verändere sie oder lasse sie los. Damit übe ich eine Haltung von Selbststeuerung, die das System zugleich in seiner Selbststeuerung respektiert.
Bedeutung für Beratung, Coaching und Mediation
Für Berater:innen, Coaches und Mediator:innen bringt der Zyklus der Hypothesenarbeit drei zentrale Wirkungen mit sich:
- Strukturierung der Arbeit: Der Zyklus bietet einen klaren Ablaufrahmen – von Beobachtung über Hypothese bis zur Reflexion – und hilft, Prozessunterstützung transparent zu gestalten.
- Haltungsschärfung: Indem Hypothesen vorläufig gehalten, beobachtet und verantwortet werden, bleibt die eigene Professionalität in einem offenen, nicht-bestimmenden Modus.
- Förderung von System-Lernen: Systemische Hypothesen ermöglichen dem Klientensystem, eigene Muster sichtbarer zu machen und neue Verbindungen zu erzeugen – ohne dass der/die Berater:in die Lösung vorgibt.
In Organisations-, Team- oder Mediationskontexten kann dieser Zyklus helfen, starre Interpretationsmuster aufzubrechen und Räume für neue Beobachtungen zu öffnen. Wenn Sie etwa in einer Konfliktsituation wiederholt hören „Das passiert immer so“, kann die bewusst formulierte Hypothese zur Einladung werden: „Was, wenn es nicht (nur) um … geht, sondern um …?“
Anwendung in der organisationalen Mediation
In organisationalen Kontexten gewinnt der Zyklus der Hypothesenarbeit besondere Relevanz.
Hier treffen nicht nur individuelle Wahrnehmungen, sondern komplexe Systemlogiken aufeinander – Hierarchie, Verantwortung, Zuständigkeit, formale Rollen, informelle Netzwerke.
Die Hypothesenarbeit wird so zu einem Instrument kollektiver Selbstbeobachtung, das hilft, Kommunikation und Strukturen zugleich sichtbar zu machen.
1. Wahrnehmen & Unterscheiden auf Systemebene
In Organisationen wird die Beobachtung schnell durch Hierarchie oder Rolleninteressen gefärbt.
Eine Mediatorin kann hier gezielt Mehrperspektivität herstellen:
„Ich beobachte, dass dieselbe Situation von drei Ebenen unterschiedlich beschrieben wird – was sagt uns das über das System?“
Damit wird die Aufmerksamkeit von der Inhaltsebene (‚wer hat recht?‘) auf die Beobachtungsebene (‚wie entsteht dieses Bild?‘) verschoben.
Diese Unterscheidung ist der erste Schritt zur Hypothesenbildung – und zur Entschärfung vieler Positionskonflikte.
2. Hypothesen bilden als Kommunikationsangebot
In der organisationalen Mediation dienen Hypothesen nicht primär der Erklärung, sondern der Kommunikationseröffnung.
Ein Beispiel:
„Könnte es sein, dass die häufigen Rückfragen weniger Misstrauen ausdrücken, sondern ein Bedürfnis nach Orientierung im Veränderungsprozess?“
Solche Hypothesen schaffen Bedeutungsräume, in denen sich Beteiligte wiederfinden oder abgrenzen können.
Sie ermöglichen neue Gesprächsdynamiken – gerade dort, wo Strukturen und Rollen bisher Kommunikation verhindert haben.
3. Beobachten & Prüfen im organisationalen Feld
Der Prüfprozess geschieht hier nicht durch Messung, sondern durch kommunikative Resonanz:
Wie reagieren Teams, wenn eine Hypothese ausgesprochen wird?
Bleibt sie im Raum, wird sie aufgenommen, erweitert, widersprochen?
Die Reaktion zeigt, ob das System bereit ist, sich selbst zu reflektieren.
Luhmann würde sagen: „Das System beobachtet, dass es beobachtet wird.“
4. Plausibilität reflektieren gemeinsam mit der Organisation
Plausibilität in Organisationen entsteht selten im Konsens, sondern in der Koexistenz unterschiedlicher Deutungen.
Systemisch betrachtet heißt das:
Nicht Einigkeit ist das Ziel, sondern Anschlussfähigkeit zwischen widersprüchlichen Wahrheiten.
Eine Hypothese ist dann plausibel, wenn sie den Dialog zwischen Abteilungen, Ebenen oder Rollen wieder in Gang bringt.
5. Eigenverantwortlich anpassen – Lernen im System verankern
In der organisationalen Mediation ist Eigenverantwortung zweifach relevant:
Einerseits für die Mediatorin, die entscheidet, welche Hypothesen sie einbringt oder verwirft.
Andererseits für das System selbst:
„Welche Hypothesen über uns als Organisation wollen wir beibehalten, weil sie hilfreich sind – und welche hindern uns an Entwicklung?“
Diese Reflexion verwandelt Hypothesenarbeit in Organisationslernen.
Die Mediation wird damit nicht nur zur Konfliktklärung, sondern zur Erweiterung organisationaler Selbstbeschreibung – ein Prozess, der weit über den konkreten Streit hinaus wirkt.
Reflexionsfragen für Ihre Praxis
- Welche Hinweise im System nehmen Sie wahr, die eine mögliche Hypothese nahelegen könnten?
- Welche Formulierung wählen Sie für Ihre Hypothese, damit sie offen genug bleibt und zugleich Aufmerksamkeit lenkt?
- Wie planen Sie den Schritt der Prüfung: Wann und wie bringen Sie die Hypothese als Angebot ein?
- Welche Kriterien führen Sie bei der Plausibilitätsprüfung an? In welchen Situationen behalten Sie eine Hypothese und wann verwerfen Sie sie?
- Wie halten Sie Ihre eigene Eigenverantwortung in der Hypothesenarbeit – und wie kommunizieren Sie diese implizit oder explizit im Prozess?

🧭 Veränderung beginnt mit Klarheit.
Als systemischer Berater, Coach und Mediator unterstütze ich Sie dabei, Konflikte zu klären, Rollen zu klären und Prozesse tragfähig zu gestalten – bevor Chancen verloren gehen.
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Fazit
Der Zyklus der Hypothesenarbeit im systemischen Denken bietet ein strukturiertes Vorgehen für die Praxis von Beratung, Coaching und Mediation. Er verknüpft Wahrnehmung, Deutung, Prüfung, Reflexion und Verantwortung zu einem dynamischen Prozess – nicht als linearer Ablauf, sondern als iterative Schleife. Dabei bleibt der Fokus auf Anschlussfähigkeit und Beweglichkeit, nicht auf Beweis oder Objektivität.
Ich lade Sie ein, diesen Zyklus bewusst in Ihrer nächsten Sitzung oder Mediation anzuwenden – und die Wirkung zu beobachten, wie sich Hypothesen nicht als finale Aussagen zeigen, sondern als lebendige Instrumente systemischen Verstehens.